Ungefähr eine mittelprächtige walisische Torschussdistanz von Belgien entfernt aufgewachsen, habe ich schon in jungen Jahren das popkulturelle Angebot zu schätzen gelernt, das gerade im Sommer in unserem Nachbarland auf der Karte steht: Festivals, Festivals, Festivals. Natürlich sind da seit ewigen Zeiten die beiden Klassiker »Rock Werchter« (vormals »Torhout Werchter«) und »Pukkelpop«. Aber eben auch etliche, kleine, mit viel Liebe ausgerichtete Festival, die immer wieder ein phantastisches Line-Up zusammenkriegen. Das war schon in den 90ern so.
Meist war es mein alter Freund Thomas, der Mitte/Ende Mai wieder eins ausgegraben hatte und fragte, ob nicht vielleicht Bock bestünde, dort gemeinsam hinzufahren. Am Ende stand man dann bei Veranstaltungen wie dem »Zwemdockrock 1995« vor der Bühne und sah für umgerechnet 17 Mark Heather Nova, Suede, Carter USM, die Ramones und noch ein paar andere. Goldene Zeiten in jedem Sommer damals.
Vergangenen Mai dann der Flashback: Zum Ende des Wonnemonats schrieb Freund Thomas eine E‑Mail an die Reisegruppe von damals. Darin ein Link und eine Frage: »Bock?« Er hatte ein Festival ausgegraben. Manche Dinge ändern sich eben nie. Und so standen wir vergangenen Samstag beim »Rock Herk 2016« vor der Bühne. Eine gute Dreiviertelstunde von Aachen entfernt, gemeinsam mit 8.000 Leuten bei einem ausverkauften und doch total gemütlichen, weil grandios organisierten Festival. Keine Schlangen vor irgendwelchen Buden, kein Gedränge, kein Geschubse, stattdessen Vinyl-Flohmärktchen, etliche nette Leute, relativ zivile Lebensmittelpreise und ein Top-Line-Up für schlappe 28 Euro.
Vier Bands hatten mich – neben der Aussicht auf einen schönen Tag mit den Jungs – zum Ticketkauf bewegt. Jede einzelne hat mich am Tag selbst ganz anders begeistert, als vorher erwartet.
Zum Beispiel Mudhoney. »Sind bestimmt etwas eingerostet auf die alten Tage, aber wenn die zwei, drei von ihren Hits spielen, kann das nett werden«, hatte ich gedacht. Und ihnen das Eingerostetsein dabei durchaus zugestanden. Immerhin hatten die zu ihren Hochtagen auch ungefähr alles an Substanzen ein- und Skandälchen mitgenommen. Zack, Überraschung! Keine Spur von eingerostet. Super auf den Punkt und knackig haben Mark Arm und die anderen nicht nur zwei, drei, sondern nahezu alle ihre Hits gespielt. In den 90ern waren derlei Auftritte viel ausgefranster und unrunder gewesen. Im Juli 2016 aber war das kurz nach unserer Ankunft auf dem Festivalgelände der perfekte Einstieg in den Tag.
Future of the Left
Die nächsten, bitte: Future of the Left. »Wie mögen die diesen vertrackten Rhythmus-Kram wohl auf die Bühne bringen?«, lautete die Frage, die ich mit diesem Auftritt klären wollte. Antwort: mit vertracktem Rhythmus, natürlich. Dieser Auftritt war eine 40-minütige Math-Rock-Demonstration. Ständig wechselte eines der Instrumente die Richtung. Und jedesmal folgten ihm die anderen auf den Fuß. Am Ende blieb eigentlich eine ganz andere Frage offen: »Wie zählen die diesen schrägen Kram mit, um nicht komplett auseinanderzulaufen?« Toll auch, dass einige Songs der »Vorgängerband« McLusky auf der Setlist standen. Und dass Sänger und Gitarrist Andy Falkous so unglaublich gerne auf dünnem Eis steht, weswegen er als Waliser mit den anwesenden Belgiern unbedingt über die EM (»Terrible, terrible football!«) und mit anwesenden Metallica-Fans über die Bandbreite seines Instrumentariums (»This is a Keyboard. Please don’t overreact.«) sprechen musste. Zum Abschied noch ein guter Rat (»Don’t sleep with Billy Corgan. Unless he’s polite.«) und dann war die wilde Fahrt auch schon zu Ende. Ich habe grauhaarige Männer im 7/8‑Takt tanzen gesehen. Toll!
The Notwist
Ein kurzes Abendfrittchen später standen auch schon The Notwist auf der Bühne, mit deren Markus Acher ich neulich erst telefoniert hatte. Seinerzeit noch in Vorbereitung eines relativ kontemplativen Konzerts, waren er, Bruder Micha und die anderen nach Belgien gekommen, um zu rocken. Also, irgendwie. Denn die, unter anderem mit Vibraphon und Turntables, großartig arrangierten Nummern aus allen erdenklichen Schaffensphasen der Band verwandelten sich gleich an mehreren Stellen in ein schwer ravendes Biest. Mit Sampler und Laptops unterstützte, analoge Songs, die auf dem Höhepunkt ihrer Entfaltung an Underworld erinnerten. Völlig reibungslos wurde nach dem Ausreizen dieser Höhepunkte alles wieder eingefaltet und zurück in die klassische Liedstruktur gebracht. Derart elektronisch und dennoch organisch haben Notwist-Live-Ausbrüche zumindest in den Ohren unserer Reisegruppe noch nie geklungen. Überraschend, faszinierend und vor allem mitreißend. Zwischendurch groovte das komplette Volk vor der Bühne. Und manch einer applaudierte noch, als die Roadies schon fast mit dem Abbauen fertig waren. Ganz großes Ding.
Napalm Death
Das Ende gehörte dann Napalm Death. »Wenn die schon spielen, nehmen wir die auch mit«, lautete die Ursprungs-Idee unserer Truppe. Wir hatten uns vorab darauf geeinigt, aufzubrechen, sobald nur einer den Auftritt mies fände. Wir sind bis zum Ende geblieben. Mehr als 70 Minuten Geprügel, die linke Hand des Schlagzeugers mit 32stel-Noten, rasante Breakdowns, brutale Mosh-Parts: Junge, war das eine beeindruckende Nummer. Und ich bin wirklich kein Metal-Head. Wenn die das seit 1987 in dieser Form abliefern, bin ich voll der Hochachtung. Zumal das auch zwischen den Songs eine perfekte Show war. Denn das sind mitnichten stumpf grunzende Gesellen. Napalm Death besteht aus mindestens drei (Der Schlagzeuger hat keine Ansagen gemacht.) unglaublich höflichen Briten aus Birmingham, die durchaus clevere Dinge zum Stand der Dinge in der Welt beizutragen hatten. Dazu noch ein nicht wirklich wiederzuerkennendes Dead-Kennedys-Cover (»Nazi-Punks, fuck off!«), ein paar brithumorige Feinheiten und eine entfesselte Meute vor der Bühne, fertig war die Nummer, die uns mit offenem Mund zurückließ. Top!
Auf dem Heimweg waren wir uns alle einig: Toll, dieses Belgien mit seinen Festivals. Und »Rock Herk« halten wir für nächstes Jahr im Auge. Wenn es wieder heißt: »Bock?«
P.S.: Ich habe einmal ein Interview mit Teilen von Napalm Death gelesen, in dem sie sagten, dass ihnen ihre Texte sehr wichtig seien. Damals habe ich schallend gelacht. Nach dem Erlebnis am Wochenende bin ich sicher, dass sie diese Antwort ernst gemeint haben. Jede Ansage zu einem Song nahm Bezug auf politische und gesellschaftliche Themen, von denen dann in der Folge aufs Brutalste gesungen wurde. »Love and dignity is what everybody needs«, war eine der Botschaften. »Please don’t turn your back on any other human being«, eine andere. Insgesamt präsentierte sich die Band ausgesprochen pazifistisch und antifaschistisch. Mit einer Einstellung, also, wie sie damals auch Nicole an den Tag legte, nur eben mit anderen Wegen, diese Einstellung zu vermitteln. »Napalm Death und Nicole, wer hätte das gedacht?«, sinnierte ich so vor mich hin, während unser Auto durch das nächtliche Belgien glitt.
wunderbar…
Good country for old men!