Experten und Fans sagten ihm eine große Zukunft voraus. Doch Alemannias Libero Rainer Rühle konnte sich diese Zukunft nicht vorstellen. Am 7. Mai 1981 setzte er seinem Leben ein Ende. Eine bis heute unfassbare Tragödie.
Samstag, 23. August 1980, Viertel nach Zwei: An ihrem fünften Spieltag hat die Nordstaffel der Zweiten Bundesliga ein traditionell brisantes Duell auf dem Programm: Rot-Weiss Essen ist zu Gast bei der Alemannia. Und mit RWE kommt ein Mittelstürmer, der sich zu Beginn der Serie brandheiß präsentiert hat. Fünf der bisherigen acht rot-weißen Treffer gehen auf das Konto von Frank Mill.
Als das torgefährliche Essener Eigengewächs zum Warmmachen aus dem Spielertunnel tritt, werden zwei Männer auf ihn aufmerksam, die unmittelbar am Ausgang bis gerade in ein Gespräch vertieft waren. Der Größere der beiden mustert Mill nur kurz. »Und der kleine Mann soll mir heute besonders viel Arbeit machen? Das kann ich kaum glauben.« Rainer Rühle spricht so laut, dass ihn eben nicht nur sein Gesprächspartner hören kann. Eine Dreiviertelstunde dauert es noch bis zum Anpfiff: Das Duell wuseliger Ausnahmestürmer gegen kantiger Vorzeigeverteidiger hat gerade begonnen.
Übersicht, Spielintelligenz, Kopfball und Grätsche
»Rainer war einer dieser Menschen, die jeden Raum ausfüllen, den sie betreten.« Robert Moonen fungierte schon damals als Stadionsprecher der Alemannia. An jenem Nachmittag war er dort am Spielertunnel Rühles Gesprächspartner und somit Ohrenzeuge dieser Szene. »Er verfügte über eine enorme Präsenz. Gerade auf dem Platz strotzte er nur so vor Selbstbewusstsein. Und das völlig zurecht.« Noch heute singt jeder, der Rühle in dieser Saison 1980/81 hat spielen sehen, Loblieder auf den riesigen, blondgelockten letzten Mann – auf seine Übersicht, seine Spielintelligenz, sein Kopfballspiel und darauf, dass er bei Bedarf auch mal eine saftige Grätsche auspacken konnte.

Genau mit diesen Qualitäten lässt Rainer Rühle im Spiel gegen RWE seinen provokanten Worten auch Taten folgen. Frank Mill sieht gegen ihn kaum einen Stich. Ganz ausschalten lässt sich ein Mann von diesem Format nie. Eine Viertelstunde vor Schluss netzt Mill eine seiner wenigen Chancen ein. Alemannia hat zu diesem Zeitpunkt jedoch schon drei Tore vorgelegt und gewinnt am Ende mit 4:3 – auch, weil Essens schärfste Waffe an diesem Tag weitestgehend stumpf bleibt. Die Spielzeit hat gerade erst begonnen, da ist jedem Fußballbegeisterten in und um Aachen schon klar, welch defensiven Hochkaräter die Alemannia im Sommer mit dem 24-jährigen Rühle an Land gezogen hat. Ohne lange Eingewöhnungszeit hilft er bei der Stabilisierung der Aachener Abwehr.
Exil-Schwaben in Eynatten
Überhaupt finden sich die Akteure in der Hintermannschaft innerhalb kürzester Zeit zu einem perfekt funktionierenden Kollektiv zusammen. Gerade in der Hinrunde scheint gegen die schwarz-gelbe Wand kaum ein Durchkommen. Neben Essen gelingt bis in den Herbst hinein nur Wattenscheid mehr als ein Treffer gegen die Alemannia. Auch im DFB-Pokal trumpfen die Aachener mächtig auf. In der zweiten Runde trotzen sie dem Karlsruher SC auf dessen Platz ein Unentschieden ab. Im Wiederholungsspiel auf dem Tivoli verteidigen Rühle und Co gegen den Bundesligisten hinten erfolgreich die Null. Vorne erzielt Bübbes Kehr im Konfettirausch den Siegtreffer. Eine Runde später muss auch Süd-Zweitligist Freiburger FC auf dem Tivoli dran glauben – die zweite badische Truppe in Folge, die bei den beiden Schwaben in Aachens Defensivzentrale auf Granit beißt.
»Komm nach Aachen, Rainer. Wir steigen zusammen mit der Alemannia auf.«
Dietmar Grabotin zu Rainer Rühle
»Was hatten wir damals eine Bombenverteidigung?! Rechts Montanes, links Schipper, in der Mitte Rainer und ich«, blickt mit Dietmar Grabotin der andere Schwabe zurück. »Wer an uns vorbei wollte, war es wirklich selber schuld.« Grabotin war es überhaupt erst zu verdanken gewesen, dass Rainer Rühle nach Aachen gewechselt war. Schon ein Jahr vor dem Kollegen hatte er den Weg von der Ersatzbank des VfB Stuttgart auf den Tivoli gefunden. Als auch sein ehemaliger Mitspieler im Sommer 1980 als Edelreservist am Neckar zu versauern drohte, nahm Dietmar Grabotin Kontakt auf. »Ich sagte ihm: ›Komm nach Aachen, Rainer. Wir steigen zusammen mit der Alemannia auf.‹« Und Rainer kam nach Aachen.
Hier entwickelt sich schnell eine Freundschaft zwischen ihm und dem zwei Jahre jüngeren Grabotin. In vielen kleinen Gemeinsamkeiten findet diese ihren Nährboden: Beide sind jung und erstmals fernab von Zuhause unter Vertrag. Beide stammen aus Orten, die kaum 20 Kilometer voneinander entfernt liegen, und sprechen mit sehr ähnlichem Akzent. Beide sind immens ehrgeizig und wollen nach oben. Und beide führen eine Fernbeziehung, da ihre Freundinnen in Schwaben geblieben sind.
Ein Mann, zwei Gesichter
Gemeinsam bezieht Alemannias Innenverteidigung ein Haus kurz hinter der belgischen Grenze. Dietmar Grabotin wohnt im Erdgeschoss des Eynattener Domizils, Rainer Rühle im ersten Stock. Wann immer sich die Gelegenheit zwischen den Spielen ergibt, fahren sie zusammen der Liebe wegen gen Süden. Nicht zuletzt auf diesen langen Fahrten nach Gmünd und Neckarsulm lässt Rühle den Kollegen und Freund in Gesprächen hinter die raue, zumeist lustige und selbstsichere Schale schauen. Dietmar Grabotin: »Wir hatten beide ziemlich viele Flausen im Kopf, machten Blödisnn, trugen ständig eine gehörige Portion Uns-kann-keiner-was vor uns her. Aber gerade Rainer hatte auch eine nachdenkliche Seite – etwa, wenn er sich darum Sorgen machte, ob seine Beziehung die Entfernung überstehen würde.«
Auch Robert Moonen hat diesen in sich gekehrten Teil des selbstbewussten Defensivspezialisten in Momenten kennengelernt, wenn sich der Leadertyp außerhalb des Fußballumfelds als Melancholiker entpuppte. Im Rückblick ordnet Alemannias ewiger Stadionsprecher diese beiden Gesichter desselben Mannes gesellschaftlich ein: »Damals war Depression kein Thema, das man einfach so ansprach. Und als harter Innenverteidiger schon mal gar nicht. Das passte nicht zu der Idee, die die Öffentlichkeit von einem Profikicker hatte.« Stärker als auch heute noch schien es daher notwendig, die Düsternis im Innen nicht nach außen dringen zu lassen. Rainer Rühle gelingt diese Abschirmung. Abgesehen von einigen wenigen Vertrauten teilt er sein Hadern und Grübeln mit niemandem.
Inwieweit er Suizid schon vor den fatalen Tagen im Mai 1981 in Betracht zieht, oder ob das, was dann kommt, einer Kurzschlussreaktion entspringt, lässt sich nicht nachvollziehen. Fest steht nur: Lebensverneinende Tendenzen hat er weder gegenüber Grabotin noch gegenüber Moonen geäußert. »Es gab keinerlei Anzeichen«, sind sich beide einig.
Emotionale Abwärtsspirale
Sportlich kann die Alemannia das im Herbst vorgelegte Tempo nicht halten. Ab Ende März häufen sich die Niederlagen. Mitte April müssen die Schwarz-Gelben alle Aufstiegshoffnungen fahren lassen. »Im Grunde war es so wie in all meinen fünf Aachener Jahren«, sagt Dietmar Grabotin. »Im Herbst haben wir auf tiefem Boden und vom Publikum angepeitscht immer 120 Prozent gegeben. Im Frühjahr fehlte uns im Gegensatz zur Konkurrenz dann die Substanz für einen Endspurt im Aufstiegskampf.«

Zumindest die Qualifikation für die in der Folgesaison startende, eingleisige Zweite Bundesliga hat die Alemannia im Frühling 1981 in der Tasche. Das Minimalziel ist erreicht. Nach einem Auswärtssieg bei Fortuna Köln fährt Rainer Rühle am 1. Mai 1981 in die Heimat, um seine Verlobte zu treffen. Schon im Sommer hatte Renate Zweifel angemeldet, ob ihre Liebe die Entfernung Gmünd-Aachen überstehen könne. Der Wechsel zur Alemannia kam erst zustande, als der Wechselwillige ihre Zweifel nach längerem Hin und Her hatte zerstreuen können. Jetzt aber hat sie keine Zweifel mehr: Die Liebe ist vorbei. Renate löst die Verlobung. Der Verlassene bleibt noch einen Tag voller Verzweiflung daheim bei seinen Eltern. Dann kehrt er zurück nach Aachen.
Beim Heimspiel gegen Göttingen 05 am 5. Mai ist er völlig von der Rolle. Der einzige Treffer der Göttinger ist ein Eigentor von Rühle. Im Anschluss an die Partie sucht er das Gespräch mit Trainer Erhard Ahmann, kann aus dem darin Besprochenen aber offenbar keine Hoffnung schöpfen. Am 7. Mai fehlt er unentschuldigt beim Training. Dietmar Grabotin: »Der Trainer schickte mich in der Pause zwischen zwei Einheiten nach Eynatten, um nach Rainer zu sehen. Sein Auto stand vor der Tür, aber er reagierte nicht auf mein Klingeln.«
Immer noch nicht fassbar
Was dann geschieht, hat Grabotin auch bald 37 Jahre später noch exakt vor Augen: »Als ich über den Balkon in seine Wohnung stieg, sah ich Rainer gleich dort liegen, den Rücken zu mir. Ich habe ihn an der Schulter rumgedreht. Da war er wohl schon lange tot.« Für immer wird ihn dieser Moment verfolgen, vermutet er – dieser Moment, der nach eigener Einschätzung sein Leben maßgeblich verändert hat. Viel hat er an diesem Nachmittag in Ostbelgien verloren: einen guten Freund, seinen »Zwilling«, wie die beiden in Alemannia-Kreisen auch gerne genannt wurden. Und auch seine eigene Unbedarftheit.
»Dass Rainer plötzlich nicht mehr da war, hat mich auf den Boden der Tatsachen geholt und für den Rest meines Lebens geprägt.«
Dietmar Grabotin
Bis heute sind Rühles Motive für ihn nicht nachvollziehbar. In zwei Abschiedsbriefen gibt dieser die Trennung von der Verlobten als Grund an. »Fernbeziehungen scheitern häufig. Das war damals so, das ist heute so. Aber das bedeutet doch nicht das Ende von allem. Wir wollten zusammen noch viel erreichen. Dass er plötzlich nicht mehr da war, hat mich auf den Boden der Tatsachen geholt und für den Rest meines Lebens geprägt.«
Die Flausen und der Blödsinn verschwinden aus seinem Leben. Ernsthaftigkeit, Stringenz und Zielstrebigkeit halten Einzug. Bis heute ist er mit seiner damaligen Freundin verheiratet, hat mit ihr drei Kinder. Den Traum, in der Bundesliga zu spielen, den er mit Rainer Rühle teilte, erfüllt er sich mit einem Wechsel zu Fortuna Düsseldorf im Sommer 1984.
An diesem Nachmittag in Eynatten aber sind das alles ungeschriebene Geschichten. Jetzt und in den nächsten Tagen gilt es erst einmal, mit dem Unfassbaren zurechtzukommen. Dass das zwei Tage später angesetzte Heimspiel gegen Eintracht Braunschweig erst nach massiven Protesten der Alemannia vom Verband abgesagt wird, spricht Bände über die Aufmerksamkeit, die man dem Seelenleben von öffentlichen Personen wie Profifußballern damals zukommen lässt.
Keine Hilfe, keine Gesprächsangebote

»Alles lief damals sehr unkoordiniert. Niemand konnte mit der Situation umgehen«, sagt Dietmar Grabotin heute. Professionelle Hilfe oder irgendeine Form von Gesprächsangebot zur Verarbeitung sind im Jahr 1981 nicht Mittel der Wahl – und in der archaischen Welt des Fußballs schon mal gar nicht. Verein und Mannschaft reisen geschlossen zur Beisetzung nach Heilbronn. »Ansonsten ging alles so schnell wie möglich weiter wie davor«, erinnert sich Robert Moonen. Drei Spiele sind bis zum Saisonende noch zu absolvieren. Das erste von ihnen findet zehn Tage nach Rainer Rühles Tod an der Essener Hafenstraße statt. RWE gewinnt 4:0. Frank Mill schießt alle vier Tore.
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Von Heilbronn über Stuttgart nach Aachen
Der Weg des Profifußballers Rainer Rühle
Bei seinem Heimatverein VfR Heilbronn machte Rainer Rühle in der Saison 1975/76 erste Schritte im Seniorenbereich. Aus der A‑Jugend kommend, wurde der damals 19-Jährige im Lauf der Serie zu einer defensiven Stütze eines Teams, das nach einjährigem Zweitligaintermezzo und Abstieg eine gute Rolle in der 1. Amateurliga Nordwürttemberg spielte. Schon bald wurde man in der großen Nachbarschaft auf den kantigen Verteidiger aufmerksam. Der VfB Stuttgart klopfte zunächst für seine Amateurabteilung an.
Im Sommer 1977 wechselte Rühle in die baden-württembergische Landeshauptstadt, wo er zum fünfmaligen deutschen Amateurnationalspieler heranreifte und im Herbst 1978 sein Bundesligadebüt feierte – mit einem siebenminütigen Kurzeinsatz beim 1:0‑Heimsieg gegen den HSV. Noch drei weitere Einsätze sollten in dieser Saison folgen. Als Rainer Rühle zur Saison 1979/80 bei den Schwaben einen Profivertrag erhielt, schien der nächste große Karriereschritt gemacht. Doch auf seiner Position saßen ihm beim VfB mit dem Brüderpaar Karl-Heinz und Bernd Förster zwei Nationalspieler vor der Nase. Zum Ende der Saison waren daher lediglich sechs weitere Bundesligaspiele und zwei UEFA-Pokalpartien zusammengekommen.
Mit gerade einmal zwölf Pflichtspieleinsätzen in zwei Jahren, kaum einer davon über die volle Distanz, geriet die Karriere des deutschlandweit beachteten Liberotalents ins Stocken. Da meldete sich Rühles ehemaliger Mitspieler Dietmar Grabotin mit der Idee, künftig wieder in einem Team aufzulaufen. Schon zur Saison 79/80 war dieser, ebenfalls zum Bankplatz hinter den Förster-Brüdern verdammt, von Stuttgart nach Aachen gewechselt, um über den Umweg Zweite Liga den Sprung nach ganz oben zu schaffen. Im Sommer 1980 folgte ihm Rainer Rühle an den Tivoli.
Dieser Artikel erschien ursprünglich im Dezember 2017 in Ausgabe 20 des Alemannia-Fanzines »In der Pratsch«.
Sehr schöner Artikel! Ich war 1981 Student am St. Gregoriushaus in Aachen und kann mich noch gut an die Schlagzeile der Aachener Zeitung erinnern: »Alemannias Libero Rainer Rühle lag tot in seiner Wohnung«. Ich hatte damals schon viele Sympathien für die Alemannia und war sehr betroffen darüber.
Ich war damals noch ganz jung 13 Jahre glühender HSV Fan und hörte es abends im Radio.Motiv Liebeskummer…bis heute bekomme ich eine Gänsehaut. Möge Rainer im Paradies seinen Frieden gefunden haben.