Weil sich Genie und Wahnsinn bei ihm die Klinke in die Hand gaben, trieb Roger Claessen Gegenspieler und Vereinsvorstände gleichermaßen an den Rand der Verzweiflung. Während zweier Spielzeiten trug der belgische Torjäger auch das Trikot der Alemannia. Im Juni 1969 köpfte er die Schwarz-Gelben zur Vizemeisterschaft.
In seiner Tätigkeit als Alemanniapräsident hat Leo Führen schon einiges erlebt. Kaum etwas kann den wortgewandten Textilfabrikanten aus der Fassung bringen. Doch das, was der sonntagnachmittägliche Anrufer gerade erzählt hat, verschlägt ihm schlichtweg die Sprache: »Roger Claessen hat sich als Freiwilliger zur Fremdenlegion gemeldet. Liebeskummer!« Vor seinem inneren Auge sieht er den teuersten Einkauf der Vereinsgeschichte in der flirrenden Wüstenhitze am Horizont entschwinden. Mit gebrochenem Herzen und geschultertem Gewehr. Einen Schweißausbruch und mehrere hektische Telefonate später ist ein rasch entworfener Notfallplan in Gang gesetzt. Als sich das Auswärtige Amt vermittelnd einschaltet, kommt Bewegung in die Sache. Und der liebeskranke Stürmer ungeschoren davon. Letzten Endes verzichten Frankreichs Streitkräfte auf seine Dienste. Am Tivoli atmet man erleichtert auf.
Immer am Limit
»Ich kann nicht behaupten, dass das Arbeiten mit Roger langweilig gewesen wäre.« Vier Jahrzehnte nach dieser fast filmreifen Episode denkt Leo Führen mit einem Schmunzeln an seinen damaligen Schützling zurück. »Man wusste genau, dass jederzeit etwas passieren konnte. Nur leider nicht, was und wann.« Im Sommer 1968 lotst Alemannias heutiger Ehrenpräsident den gebürtigen Wallonen von Standard Lüttich an die Krefelder Straße. Der 26-Jährige soll bei den Kartoffelkäfern eine wichtige Aufgabe erfüllen: die Verstärkung der bis dato eher mauen Offensive. Schließlich soll das Team nach Aufstieg und erfolgreichem Klassenerhalt in der kommenden Spielzeit zum Angriff auf die vorderen Plätze der Bundesliga blasen.
Ein ambitioniertes Ziel, für dessen Erreichen sich die Kaiserstädter weit aus dem Fenster lehnen. 300.000 DM lässt man sich alleine die Unterschrift des belgischen Torschützenkönigs und Sportlers des Jahres kosten. Seine Erfolge für die »Rouge et Blanc« – 161 Tore in 229 Spielen, Meisterschaft, Pokalsieg – erregen Aufsehen in Fußballdeutschland. Diese Aachener wollen es also wirklich wissen.
Aber nicht alle Vereinsverantwortlichen teilen die Führensche Vision einer Alemannia an der Tabellenspitze. Zumindest nicht um jeden Preis. Unmittelbar nach der Bekanntgabe des Transferabschlusses tritt Schatzmeister Harry Read von seinem Amt zurück. Der Verwaltungsratsvorsitzende Werner Kochs folgt ihm auf dem Fuß. Beiden ist das finanzielle Risiko zu hoch. Kochs sieht mit dieser Verpflichtung zudem massive, zwischenmenschliche Probleme auf den Verein zukommen. Dem Neuzugang eilt der Ruf eines Enfant terrible voraus. Bereits mehrfach ist Roger Claessen in seiner Heimat mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Von Erregung öffentlichen Ärgernisses, über Sachbeschädigung bis hin zu Nötigung reicht die Palette seiner Verfehlungen. Ein halbes Dutzend Sportwagen hat er im Lauf der letzten Jahre volltrunken zu Schrott gefahren, sich erst jüngst mit einer achttägigen Haftstrafe für die belgische Nationalmannschaft untragbar gemacht. Die Standard-Fans nennen ihn »la Honte« – die Schande. Und lieben ihn dennoch.
Denn nicht nur abseits des Platzes tritt Claessen das Gaspedal durch. Er spielt Fußball wie er lebt: kompromisslos, immer am Limit, ohne Rücksicht auf Verluste. Mit gerade einmal 16 Jahren macht er sein erstes Profispiel. Von Anfang an sind die Massen von seinem Kampfgeist und seiner Spielkunst angetan. Eine Europapokalpartie gegen das ungarische Team Vasas Györ im März 1967 macht ihn in Lüttich unsterblich. Von zwei Gegenspielern übel in die Mangel genommen, muss Roger Claessen schon vor der Halbzeit mit einem Armbruch in die Kabine. Auswechslungen sind noch nicht erlaubt. Nach dem 1:2 im Hinspiel droht den dezimierten Rot-Weißen das Aus. Bis ihre Nummer Neun kurz vor dem Ende wieder an der Seitenlinie auftaucht.
Gegen den Willen des Mannschaftsarztes und eine halbe Flasche Whiskey zur Schmerzbekämpfung intus springt Claessen zurück ins Geschehen. Kaum auf dem Rasen erzielt er das 1:0, bereitet sogar noch einen zweiten Treffer vor. Standard erreicht das Halbfinale und feiert seinen Matchwinner überschwänglich. Das ist das Holz, aus dem Helden geschnitzt sind. Genau für diese Siegermentalität hat die Alemannia derart tief in die Tasche gegriffen. Nackt Sonnenbaden hin, betrunken Randalieren her.
Von der Leine gelassen
Anfang Juli 1968 wird die neue schwarz-gelbe Wunderwaffe der Öffentlichkeit vorgestellt. Passenderweise findet die Pressekonferenz in einer Kneipe statt. Doch von Schande keine Spur. Stattdessen sitzt da ein adrett gekleideter, junger Mann, der an seinem Wasser nippt und freundlich lächelnd alle Fragen der Reporter beantwortet. In nahezu fließendem Deutsch. Roger Claessen präsentiert sich humorvoll und keineswegs auf Kopf oder Mund gefallen. Zu guter Letzt macht er allen Anwesenden klar, dass er die ihm zugedachte Mission längst verinnerlicht hat. Vollmundig verspricht er den Alemannia-Anhängern, in jeder Partie mindestens einmal zu treffen. Als er in seinem ersten Testspiel gegen den PSV Eindhoven gleich doppelt einnetzt, sind sich alle Experten einig: Mit diesem Mann kann es für die Alemannia nur bergauf gehen. Tatsächlich wird der Neue in der Folgezeit zu einem der Hauptakteure einer herausragenden Saison. Der erfolgreichsten in der kaiserstädtischen Bundesligageschichte.
Vom Start weg zeigt das Team der Konkurrenz, wozu es neuerdings fähig ist. Mit 4:1 überrollt es den amtierenden deutschen Meister aus Nürnberg in dessen Stadion. Eine Woche später ergeht es der Frankfurter Eintracht am Tivoli nicht viel besser. Nach fünf Spieltagen steht die Alemannia auf dem zweiten Tabellenplatz. Als Ursache für den schwarz-gelben Höhenflug sieht die Fachpresse vor allem die mannschaftliche Geschlossenheit, die auch über den Schlusspfiff hinausgeht. Trainer Michel Pfeiffer findet das richtige Maß zwischen Zuckerbrot und Peitsche, lässt seine Jungs beizeiten zum Feiern von der Leine. In einer derart vertrauensvollen Atmosphäre fühlt sich Roger Claessen sichtlich wohl. Ohne lange Eingewöhnungszeit ist er sofort Dreh- und Angelpunkt des Aachener Spiels. Sein Spielverständnis, seine Ballbehandlung und nicht zuletzt sein Killerinstinkt heben die schwarz-gelbe Offensive auf ein selten gesehenes Niveau. Alles scheint in bester Ordnung, als den Belgier im Herbst ein Todesfall in der Familie aus der Bahn wirft.
Fußball wird für ihn bis auf weiteres zur Nebensache. Erst zu Beginn der Rückrunde findet der Stürmer seine alte Form wieder. Ohne seine Durchschlagskraft bis dahin ins Mittelfeld durchgereicht, kämpft sich die nun wieder erstarkte Alemannia in einer überragenden Halbserie Punkt für Punkt zurück nach oben. Am Ende muss sie sich in der Tabelle nur den Münchener Bayern geschlagen geben. Mit einem 1:0 bei Hertha BSC Berlin am letzten Spieltag sichern sich die Kartoffelkäfer die Vizemeisterschaft. Den entscheidenden Treffer markiert Roger Claessen per Kopf aus nahezu unmöglichem Winkel. Daheim an den Radios kennt die Freude keine Grenzen. Währenddessen geben die Verantwortlichen der Mannschaft Urlaub bis zum Wecken. Innerhalb einer denkwürdigen Nacht haut sie mit den mitgereisten Schlachtenbummlern die komplette Siegprämie auf den Kopf. Im Partyrummel vorneweg: der Siegtorschütze.
Carrerabahn und Literatur
»Roger war ein begnadeter Fußballer, ein absolut verlässlicher Kamerad.« Wie Leo Führen hält Alemannias ehemaliger Verteidiger Peter Schöngen heute noch große Stücke auf seinen alten Kollegen. »Und wenn er nach dem Spiel loslegte, blieb kein Auge trocken.« Wie schon in Lüttich macht Claessen auch in Aachen bei nahezu jeder Gelegenheit das ganz große Fass auf. Oft trifft man ihn in seinem Stammlokal an. Meist mit gleich mehreren jungen Damen am Tisch. Dank seines Charmes, seines Aussehens und seines französischen Akzents rennen ihm Aachens Frauen die Türe ein. Anbrennen lässt der begehrteste Junggeselle der Stadt nichts.
Und als ob Fußballprofi nicht schon Traumberuf genug wäre, arbeitet er nebenbei als Dressman. Er lebt wie er Fußball spielt: rasant, ohne Zögern, wild entschlossen. Dennoch verliert er nicht komplett die Bodenhaftung. Dass am Ende des Monats nicht viel von seinem Gehalt übrig bleibt, liegt nicht ausschließlich an den Saalrunden, die er im »Le Bistrot« schmeißt. Denn es gibt auch einen anderen Roger Claessen.
Und dem ist durchaus bewusst, dass es nicht allen Menschen so gut geht wie ihm. Immer wieder spendet er beträchtliche Summen für karitative Zwecke. Als ihn eines Tages ein Bettler auf der Straße um ein paar Münzen bittet, drückt er dem Mann einen Briefumschlag mit schwerem Inhalt in die Hand: die Prämie der letzten Spiele. Claessen kommt gerade von der Geschäftsstelle, hat das Couvert noch nicht einmal geöffnet. Nach außen dringt von seinem sozialen Engagement wenig. In der Öffentlichkeit herrscht das Bild des vergnügungssüchtigen Lebemanns vor. Dass das Spielkind eine riesige Carrerabahn in seiner Wohnung aufgebaut hat, wissen alle. Dass gleich neben der Rennstrecke aber auch ein proppevolles Bücherregal steht, nur die wenigsten.
Seit der Schulzeit gehört Literatur zu seinen großen Leidenschaften. Der belesene Kicker bevorzugt russische Autoren. Jahre später wird der Lütticher Filmemacher Jean-Pierre Dardenne, Gewinner der goldenen Palme von Cannes, die regelmäßige Erwähnung von Dostojewski in Interviews mit seinem Idol als sein kulturelles Erweckungserlebnis nennen. In seiner zweiten Spielzeit bei der Alemannia bekommt Roger Claessen viel Zeit zum Lesen. Mehr als ihm lieb ist. Auf dem Platz steht er nur noch selten.
Adieu, Roger!
Diverse Verletzungen verhindern ein regelmäßiges Auflaufen. Zudem hat sich die Chemie in der Truppe verändert. Trotz Vizemeisterschaft ist Michel Pfeiffer auf dem Trainerstuhl durch Georg Stollenwerk ersetzt worden. Der Disziplinfanatiker pflegt einen ganz anderen Umgang mit der Mannschaft, die sich in der Folgezeit in ihre Bestandteile auflöst. Der Teamgeist zerbröselt. Schon in der Hinrunde trudelt die Alemannia in Richtung Abstiegsplätze. Die Stimmung bei den Fans kippt. Plötzlich wird aus Claessen der Buh-Mann, der Fehleinkauf und Nichtskönner.
Damit kommt der Gescholtene nicht zurecht. Wenn er einmal spielt, bringt er seine gewohnte Leistung nicht. Noch lautere Pfiffe und noch schlechtere Spiele sind die Folge. Kurz vor Weihnachten wird Stollenwerk entlassen. Bei dessen Nachfolger Williberth Weth findet der Held der Vorsaison fast gar keine Beachtung mehr. Die Bank wird sein Stammplatz. Als Ende April 1970 der sang- und klanglose Abstieg der Kartoffelkäfer feststeht, ist Roger Claessen nicht mehr zu halten. Und für den Verein auch nicht mehr zu bezahlen. Er geht zurück in seine Heimat.
Wo er mit Beershot VAV auf Anhieb den belgischen Pokal gewinnt. Es ist sein letzter großer Erfolg. Denn inzwischen jenseits der 30, muss der Ausnahmestürmer immer häufiger der intensiven Spielweise seiner jungen Jahre Tribut zollen. Verletzungsbedingte Ausfälle mehren sich. Um dem vorzubeugen, wechselt der Veteran vom Sturm in die Verteidigung, überrascht mit seinen Leistungen dort Fans und Fachleute. Neben dem Platz sorgt er vor: Bereits mit Blick auf sein Karriereende eröffnet er ein Café in Lüttich. Vorerst bleibt er aber noch auf dem Platz.
Über den Royal Crossing Club de Schaerbeek wechselt er 1974 zum Drittligisten RJS Bas-Oha, wo er in die Rolle des Spielertrainers schlüpft. Nach zwei weiteren Stationen in Sankt Vith und Queue-du-Bois zieht er sich 1978 endgültig vom aktiven Fußball zurück. Fortan veranstaltet er Lesungen und Poesie-Abende, trainiert nebenbei Jugendmannschaften seines Heimatvereins Standard Lüttich. Währenddessen hat sich der Partylöwe in ihm zur Ruhe gesetzt. Zuletzt lebt Claessen sehr zurückgezogen. Die einstige Stimmungskanone hat von allem genug mitbekommen. »Um dasselbe zu erleben wie Roger in seinen 41 Jahren, müsste ich 200 Jahre alt werden«, kann Peter Schöngen aus der gemeinsamen Zeit so manches Lied singen.
Kontakte nach Aachen pflegt Roger Claessen seit seinem Abschied nur sporadisch. Die Nachricht seines Todes kommt für alle überraschend. Am 3. Oktober 1982 wird er leblos in seiner Wohnung aufgefunden, einer tödlichen Mischung aus Valium und Alkohol erlegen. Ob Unfall oder Selbstmord bleibt ungeklärt. Unter den Kränzen bei seiner Beerdigung findet sich auch einer der Alemannia. Ein letzter Gruß. Und ein letzter Dank für das Tor zur Vizemeisterschaft.
Als Roger Claessen zu Alemannia Aachen kam, war ich zehn Jahre alt. Die Erinnerung an diese große Zeit der Alemannia ist deshalb leider verblasst. Von vielen damaligen Spielern weiß ich nur noch die Namen, so auch den von Roger Claessen, auf den ich noch einmal durch die Lektüre des von Franz Creutz herausgegebenen Buches »Der Jupp« aufmerksam wurde und welches mich dazu anregte, im Internet zu recherchieren. Ihr vorstehender Artikel über Roger Claessen hat mir einiges offenbart, was ich damals nicht wusste. Ausgezeichnet, vielen Dank dafür. Adi S.
Er war ein »George Best«. Für mich mit 19 Jahren, als er zur Alemannia und zum Tivoli kam, war er das Größe: Ein Popstar in der Provinz, der Aachen half, am Saisonende Deutscher Vizemeister zu werden. Ein von Standard Lüttich kommender Spieler mit Legenden. Fußballer, Model, Lebemann. Mit dem rumänischen Ballkünstler Ion Ionescu. Daneben noch ein 18jähriger, der kommende deutsche Nationalspieler Jupp Kapellmann, der dann über Köln zu den Bayern wechselte. Um Roger Claessen rankte viel Geschichten, z.B. dass er in der Halbzeit einen Cognac brauchte, um in der 2. Hälfte richtig aufzudrehen. Und nach dem James Dean-Gesetz musste auch er früh sterben.Folge eines ungesunden Lebenswandels natürlich. mNur Ansgar Brinkmann kommt ihm nahe. Einer wie er verhinderte, dass ich Fan von Köln und Gladbach wurde und bis heute Alemanne blieb. Danke dafür, Roger
Ich binFroh ‚diese einmalige Zeit mit-erlebt zu haben.Danke Roger…Fussbal- Gott.
Vielen Dank für diesen tollen Artikel! Sehr schön auch, noch einmal an Peter Schöngen, meinem Freund und Cousin, erinnert zu werden. Leider musste Peter nach einer schweren Verletzung – einem beabsichtlichen, groben Foul von Jupp Heynckes – seine Karriere viel zu früh beenden. Noch wenige Tage vor seinem Tod hat er mir bei unserem Dienstags-Frühstück erzählt, wie sehr es ihn schmerzt, nie ein Wort der Entschuldigung oder eine Frage nach dem Befinden vom Star Heynckes erhalten zu haben…
Diesen Schmerz habe ich bei ihm auch empfunden. In einem unserer Gespräche hat Peter Schöngen einmal von einer Begegnung mit Jupp Heynckes erzählt – viele Jahre nach der aktiven Zeit der beiden, soweit ich mich erinnere, im Rahmen eines 74er-WM-Final-Erinnerungsspiels auf dem alten Tivoli. Er hat Heynckes damals ganz explizit auf seine Verletzung und das daraus resultierende Karriereende angesprochen. Als Antwort hieß es sinngemäß nur: »Ja, wir haben damals alle auf die Socken bekommen.« (Das wörtliche Zitat habe ich nicht mehr exakt vor Ohren.)