»Ein Mädchen und ein Gläschen Wein kurieren alle Not; und wer nicht trinkt und wer nicht küsst, der ist schon lange tot.« Weise gesprochen, Herr Goethe – und so zeitlos. Denn was in den Tagen des alten Stürmers und Drängers galt, ist heute nicht minder wahr: Lustvolles Genießen macht das Leben immer noch lebenswert. Was sich seit damals hingegen schon verändert hat, ist die Vielfalt der Wege, sich einen solchen Genuss zu Gemüte zu führen.
Wem an den Klassikern Wein und Weib, gerne auch ergänzt durch Gesang, gerade nicht gelegen ist, kann sich ersatzweise auch an einem Gummiseil in einen Abgrund stürzen. Oder auf einer Wellness-Ranch mit Aromaöl und heißen Steinen durchkneten lassen. Oder in dem Coupé mit 250 Sachen Bang Boom Bang über die Bahn. Jeder wie er lustig ist.
Für viele scheint der Spaß an der Freud zudem erst richtig rund zu sein, wenn sie anderen davon berichtet haben. Tue Dir Gutes und rede darüber. Und auch hier machen sich die Möglichkeiten der Moderne bemerkbar. Konnte man früher nur ein paar Verwandte und Freunde mit exklusiven Informationen versorgen, steht dem Mitteilungsbedürftigen heutzutage dank Internet nahezu die ganze Welt offen.
Um der zu beweisen, dass man im Sinne Goethes eben noch lange nicht tot ist, wird fleißig der eigene Genuss kommuniziert. Geteilte Lust ist offenbar doppelte Lust. Ein Video vom Unheilig-Konzert hier, ein Foto vom vorzüglichen Vorspeisenteller da. Es war schon von Leuten zu hören, die ihr Urlaubsdomizil zum ersten Mal zu Gesicht bekamen, als sie die Bilder daheim am Rechner bearbeitet und hochgeladen haben. Vor Ort war immer die Kamera im Weg. Aber immerhin weiß jetzt jeder, was Du letzten Sommer getan hast. Und vergangene Nacht?
Besonders offenherzige Vertreter machen auch nicht davor Halt, die Menschheit an ihrem Sexleben teilhaben zu lassen – ganz harmlos mit kleinen, zotigen Bemerkungen bei Facebook, Twitter und Co, wahlweise aber auch mit ausführlichen Schilderungen oder ganz handfest mit Fotos und Filmchen. Erst neulich hat eine Umfrage ergeben, dass jeder sechste Deutsche schon einmal einen privaten Porno gedreht hat. Bei weitem nicht alle sind dabei ausschließlich für den Hausgebrauch gedacht.
Dass sie sich mit dieser Erzähl- und Zeigelust gesellschaftlich ein Stück weit ins Abseits befördern, scheint vielen Amateur-Erotikliteraten und Hardcore-Hauptdarstellern nicht wirklich bewusst zu sein. Im Gegensatz zu den Möglichkeiten der Lustschilderungen hat sich deren öffentliche Wahrnehmung im Laufe der Zeit nicht sonderlich gewandelt. Wer die rasante Raftingtour öffentlich Revue passieren lässt, gilt weithin als Abenteurer. Wer von dem herrlichen Bordeaux schwärmt, der ihm am Vorabend über den Gaumen geperlt ist, als Schöngeist. Schwitzende Körper und in den Rücken gebohrte Fingernägel hingegen lassen deren Erzähler im besten Fall als obszön erscheinen.
Unabhängig von solchen Bewertungen schütteln Lust-Puristen über dieses Verhalten ohnehin verständnislos den Kopf. Nach ihrer Meinung kann nur der wirklich genießen, der den Moment voll und ganz wahrnimmt. Und das, so sagen sie, funktioniert nicht, wenn man quasi ständig mit dessen medialer Auf- und Nachbereitung beschäftigt ist. Komplett von der Hand zu weisen ist dieser Hinweis nicht. Tatsächlich verändert es das eigene Empfinden einer Situation, wenn man währenddessen schon überlegt, wie man seiner Umwelt später von diesem Festessen berichten soll oder ob der eigene Hintern auch wirklich im Bild ist.
Vielleicht sorgt aber genau dieses veränderte Empfinden für eine andere Lust, die auch ein Produkt des Zeitgeistes ist: postmoderne Metalust, bei der das Wissen um das spätere Teilen dieses Moments einen ganz eigenen sinnlichen Genuss initiiert. Und es ist sogar denkbar, dass das irgendwann zur eigentlichen Motivation wird – dass ein Metalüstling morgens wach wird und nicht denkt »Mensch, ich habe Bock auf Paragliden.«, sondern »Was soll ich den Leuten heute zeigen? Warum nicht einen Nachmittag im Whirlpool?« Wenn er dadurch eine gute Zeit und Spaß hat, ist dagegen auch gar nichts einzuwenden. Dass ein anderer sich vom erhöhten Mitteilungsbedürfnis genervt fühlen könnte, taugt nur mindergut als Kritik.
Sicher schwingt bei dieser Lust an der Lust ein gehöriges Maß an Exhibitionismus mit. Im Gegensatz zu den Herren, die mit offenem Mantel im Park herumstehen, schaden diese digitalen Quasi-Exhibitionisten aber niemandem. Wer das Ganze nicht sehen will, muss einfach nicht hingucken. Gerade im Internet funktioniert selektive Wahrnehmung ganz hervorragend. Und ansonsten gilt ohnehin: Jeder wie er lustig ist.
Die aktuelle Ausgabe der Aachener Stadtzeitung »klenkes neo« beschäftigt sich wie immer mit einem zentralen Thema. Diesmal also Lust. Die Illustration der Seite (und überhaut der gesamten Zeitung) hat einmal mehr der Malte übernommen. (Das wollte ich schon immer mal erwähnt haben.)