Liebe in Zeiten der Netz-Ära

Schnüss Mai 2012, Seite 8

Über zwei Jah­re sind Dirk (38) und Kathi (24) schon ein Paar. Seit ihrer Hoch­zeit im Juli 2010 ver­brin­gen die bei­den täg­lich etli­che Stun­den mit­ein­an­der. Gese­hen haben sie sich in die­ser Zeit nur spo­ra­disch. Er lebt in Köln, sie in Duis­burg. Was die bei­den gemein­sam unter­neh­men und erle­ben, geschieht fast aus­schließ­lich in ihren Com­pu­tern – getausch­te Rin­ge inklusive.

Secret City – ein Name wie aus einem India­na-Jones-Film. Doch dahin­ter ver­birgt sich nicht etwa ein ver­ges­se­ner Tem­pel­kom­plex im kam­bo­dscha­ni­schen Dschun­gel. Secret City ist eine deutsch­spra­chi­ge Inter­net-3D-Welt, eine vir­tu­el­le Stadt vol­ler ani­mier­ter Chat-Räu­me, in denen sich Tag für Tag die Ava­tare meh­re­rer hun­dert User aus Deutsch­land, Öster­reich und der Schweiz tum­meln. Wäh­rend ihre Den­ker und Len­ker daheim vor dem Rech­ner sit­zen, tref­fen sich die fern­ge­steu­er­ten Figür­chen auf Par­tys, hän­gen am Strand oder in vir­tu­el­len Appar­te­ments ab und plau­dern mit alten und neu­en Bekann­ten. Nichts muss, alles kann. Benut­zer, die 20 Euro pro Monat inves­tie­ren und ihre Voll­jäh­rig­keit nach­wei­sen, kön­nen per Maus­klick sogar sexu­ell aktiv wer­den. »Pixeln« nennt das der stadt­in­ter­ne Volks­mund. Foto­mo­del, Disk­jo­ckey, Auf­rei­ßer: In Secret City darf jeder sein, was und wie er will. Vie­len bie­tet die­se Platt­form eine moder­ne Mög­lich­keit der Rea­li­täts­flucht. Der ver­gleichs­wei­se tris­te All­tag bleibt drau­ßen. Will­kom­men in der Matrix.

Hier sind sich Kathi und Dirk eines Tages über den Weg gelau­fen – oder viel­mehr ihre Alter Egos Bibb­le und Koel­ner­bub. Aus Neu­gier wur­de im Lau­fe lan­ger Gesprä­che Zunei­gung und schließ­lich Lie­be. »Das Äuße­re spielt hier kei­ne Rol­le. Dar­um lernt man den Cha­rak­ter des ande­ren viel inten­si­ver ken­nen als in der rea­len Welt«, glaubt Kathi. Gleich­zei­tig birgt die­se kör­per­lo­se Form der Annä­he­rung aber auch die Gefahr, die Kat­ze im Sack zu kau­fen. Nicht jeder Benut­zer begreift Secret City als ver­län­ger­ten Arm des eige­nen Lebens. Für man­che ist das Gan­ze ledig­lich ein Spiel und die Gele­gen­heit, sich selbst im wahrs­ten Sin­ne völ­lig neu zu erfin­den. Pral­len die­se bei­den Ansich­ten auf­ein­an­der, wer­den bis­wei­len Gefüh­le ver­letzt. Davon, dass Chat­fens­ter min­des­tens eben­so gedul­dig sind wie Papier, kann Kathi auch ein Lied sin­gen. Dirks Vor­gän­ger ent­pupp­te sich letzt­lich als Frau, die sich in Secret City ein­mal als Mann aus­pro­bie­ren woll­te. »Viel­leicht hät­te ich es mer­ken kön­nen«, blickt die über Mona­te Geprell­te zurück. »Tele­fo­na­te wur­den kate­go­risch abge­lehnt, ein ver­ab­re­de­tes Tref­fen aus einem faden­schei­ni­gen Grund kurz­fris­tig abge­sagt.« Ähn­li­che Vor­komm­nis­se im Bekann­ten­kreis hät­ten ihr Miss­trau­en zusätz­lich wecken kön­nen. Doch erst mit dem Geständ­nis des ver­meint­li­chen Part­ners fand ihr Ver­trau­en in das Gegen­über ein jähes und schmerz­haf­tes Ende. Dass Kathi über die­se Epi­so­de inzwi­schen lachen kann, liegt nicht zuletzt an Dirk.

Er hat ihr den Glau­ben an Ehr­lich­keit im Chat zurück­ge­ge­ben. Zwei­fel an sei­ner Authen­ti­zi­tät zer­streu­ten sich spä­tes­tens nach dem ers­ten Tele­fo­nat. Als die bei­den erst­mals leib­haf­tig vor­ein­an­der stan­den, sprang der Fun­ke auch real über. Vir­tu­ell hat­ten sie sich zu die­sem Zeit­punkt bereits das Ja-Wort gege­ben. Allen unbe­grenz­ten Mög­lich­kei­ten zum Trotz steht die­se ver­gleichs­wei­se alt­mo­di­sche Tra­di­ti­on bei der Stadt­be­völ­ke­rung hoch im Kurs. Diver­se Pfar­rer­teams brin­gen Mann, Frau und alles dazwi­schen unter pas­sen­de Hau­ben. Der zuge­hö­ri­ge Nach­wuchs lässt sich sogar noch infor­mel­ler fin­den: Ana­log zum Vater-Mut­ter-Kind-Spiel in der KiTa erklä­ren sich die Benut­zer gegen­sei­tig zu Sohn, Oma oder Groß­cou­si­ne. In Kom­bi­na­ti­on mit einer extrem hohen Schei­dungs­ra­te und der Tat­sa­che, dass man­che User etwa ein­mal pro Monat hei­ra­ten, ent­ste­hen so Patch­work­clans teils bibli­schen Aus­ma­ßes. Für die Hoch­zeit von Kathi und Dirk waren der­ar­ti­ge Spie­le­rei­en aller­dings nicht der Grund. »Wir woll­ten ein­fach nur öffent­lich machen, wie sehr wir uns freu­en, ein­an­der begeg­net zu sein«, spricht Dirk für die bei­den. »Denn nicht im Traum hät­ten wir gedacht, aus­ge­rech­net in einem Chat jeman­den zu fin­den, der uns ein­mal so wich­tig wer­den kann.« Plä­ne für ein gemein­sa­mes Leben 1.0 schmie­det das Paar den­noch vor­erst nicht. In der Rea­li­tät bleibt er in Köln, sie in Duis­burg. Abge­se­hen von spo­ra­di­schen Besu­chen bei­ein­an­der, leben die bei­den ihre Part­ner­schaft dort, wo sie ent­stan­den ist: in Secret City. Ihrer gemein­sa­men Matrix.

Ursprüng­lich erschien die­ser Arti­kel in der Mai­aus­ga­be des Bon­ner Stadt­ma­ga­zins »Schnüss«.
Offen­le­gung: Im Auf­trag einer Agen­tur habe ich 15 Mona­te lang einen monat­li­chen News­let­ter für die User von Secret City erstellt. Die­ser Auf­trag besteht seit dem Früh­jahr 2011 nicht mehr.

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