Man sieht sie in den Straßen. Sie sind überall, schwenken ihre Smartphones wie Wünschelruten, um kleine Figürchen einzufangen, die die meisten anderen Leute gar nicht sehen. Und sie lassen sich von Gangstern in Fallen locken, rennen über rote Ampeln oder stolpern in Baugruben. Seit Mitte Juli zieht das Pokémon-Fieber seine epidemischen Kreise. Pokémon?! Wir haben das Jahr 2016, nicht 1996. Sind die verrückt?
Ja, so könnte man die Geschichte beurteilen. Aber hey, wollen wir es diesmal einfach anders machen? Wollen wir den Leuten, die auf diesen viralen Zug aufspringen, einfach mal keinen Wahnsinn unterstellen und sie nicht belächeln? Das wäre doch mal was. Denn auch wenn die verbissene Jagd auf Taubsi, Miltank, Traumato und Co in freier Wildbahn selbstgefährdende Auswüchse annehmen kann und sowieso irgendwie unvernünftig ist, lässt sich die »Pokémon Go«-Story auch anders erzählen.
Tatsächlich bedeutet dieses Spiel den ersten Fall, in dem die Idee Augmented Reality weite Kreise zieht – und zwar richtig richtig weite Kreise. Plötzlich ist die Erweiterung der Realität durch virtuelle Inhalte, die Verschmelzung von analoger Welt und digitaler Information in aller Munde. Klar, das geschieht mit einem Spiel, aber selbst im Bewusstsein nicht besonders technikaffiner Menschen wurde in den letzten Wochen ein Hebel umgelegt, der vielleicht für ein wenig Offenheit sorgt. Schließlich wird Augmented Reality künftig eine große Rolle spielen.
Es ist so vieles denkbar, das unser Leben erleichtern wird: weitergehende Informationen zu Museumsexponaten beim Blick durch das Smartphonedisplay (weitere Beispiele für AR im Museum bei »Culture to go«); Wegbeschreibungen des Navigationssystems, die direkt ins Brillenglas projiziert werden; LKW-Windschutzscheiben, die dem Fahrer signalisieren, ob auf dieser Raststätte noch ein Parkplatz für die Nacht frei ist. Oder, oder, oder. Diese Dinge werden kommen. Es lohnt sich, die Tür für sie offen zu lassen. Die Tür, die durch ein irgendwie unvernünftiges Spiel erstmals so richtig weit geöffnet worden ist.
Bei unserem allmonatlichen Pro-und-Contra-Abtausch im Bonner Stadtmagazin »Schnüss« haben Kollegin Gitta und ich uns diesmal mit Pokémon Go beschäftigt. Ich war eher so Pro.
Und wer will, der kann selbst bei diesem »unvernünftigen Spiel« eine ganze Menge entdecken. So stolperte ich dieser Tage in der Thomas-Mann-Straße über das Geburtshaus von Hermann Josef Abs, dem »großen« Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank. Das war mir bisher nicht bekannt, dass er aus Bonn kommt und ist nur ein Beispiel von zahlreichen anderen.
Ansonsten kann ich nur sagen, dass ich heute besonders gut auf Pokémon GO zu sprechen bin, ging mir doch eben beim Gang zur Post Pikachu am Frankenbad in die Fänge :)