»Dieses Design ist zeitlos«, hört man Menschen sagen. Was aber meinen sie genau damit? Was macht Zeitlosigkeit aus? Eine Annäherung.
Eben noch der letzte Schrei und plötzlich weg vom Fenster: Dieses Schicksal teilen viele Gegenstände des täglichen Lebens. Ganz gleich, ob es sich dabei um Kleidung, Elektrogeräte oder auch Möbel handelt, irgendwann ist der Moment gekommen, an dem das jeweilige Design einfach nicht mehr zeitgemäß erscheint. In diesem Punkt kennt die öffentliche Meinung kein Erbarmen – die öffentliche Meinung und nicht zuletzt all die Marketingstrategen, die beim Schaffen neuer Trends und Bedürfnisse vorangehen.
Immerhin, so ist sich der Volksmund sicher, kommt alles, was einmal schön und modern war, irgendwann auch wieder. Doch stimmt das? Wirklich alles? Nein. Einige wenige Dinge kommen garantiert nicht wieder. Weil sie nie wirklich weg waren vom Fenster. Weil sie immer ein Teil unserer ästhetischen Gegenwart geblieben sind. Diese wenigen Dinge überdauern den geschmacklichen Wandel. Denn ihr Design ist das, was man landläufig zeitlos nennt.
Funktionalität geht vor
Dabei erblickt kein Produkt mit diesem Ritterschlag unter den Bewertungen das Licht der Welt. Außergewöhnlich mag man es von Beginn an nennen, innovativ und mutig, vielleicht sogar revolutionär. Um jedoch das Prädikat der Zeitlosigkeit verliehen zu bekommen, braucht es vor allem Zeit – und davon eine ganze Menge. Zunächst während des Designprozesses selbst: Gut Ding will nach wie vor Weile haben. Und erst wenn sich nachfolgende Designergenerationen auf das Design berufen und es zitieren, wenn Verbraucher es auch nach Jahrzehnten noch in nahezu unveränderter Form akzeptieren und kaufen, wenn es also ins kollektive Bewusstsein für Ästhetik übergegangen und ein Teil des allgemeinen Kulturguts geworden ist, lässt sich mit Fug und Recht von zeitlosem Design sprechen.
Wohl jeder Designer hegt mehr oder minder insgeheim den Wunsch, ein solches Produkt zu entwerfen. Wer weiß: Unter Umständen sitzt in diesem Augenblick jemand an seinem Schreibtisch und entwirft ein Sofa von zeitloser Schönheit. Der entsprechende Ruhm würde ihm wahrscheinlich erst in ferner Zukunft zuteil werden. Denn erst unsere Kinder, Enkel und Urenkel werden das zeitlose Möbelstück als solches bewerten können. Vorhersehbar oder gar planbar ist das Ganze nicht.
Oder vielleicht doch? Schließlich wohnt nahezu allen Gegenständen, die wir heute als zeitlos betrachten, eine Gemeinsamkeit inne: Sie kommen ohne Schnickschnack daher, sind auf das Wesentliche reduziert und vor allem gebrauchstauglich. Ihnen allen liegt ganz offensichtlich dieselbe Idee zugrunde: Die intelligente Verbindung von Form und Funktion ist wichtiger als bloßes Styling.
»Gutes Design ist so wenig Design wie möglich«, hat Dieter Rams diesen Umstand in seinen zehn Thesen zu gutem Design einmal formuliert. Er wusste, wovon er sprach. Als Chefdesigner bei Braun hat Rams zwischen 1961 und 1995 zahlreiche Produktreihen auf den Weg gebracht, die den Stil seiner Zeit, aber eben auch den der unseren geprägt haben.
Sehr besondere Fanpost
Viele seiner Projekte sind heute im Museum of Modern Art in New York ausgestellt. Und auch an der Westküste der USA, im kalifornischen Städtchen Cupertino, werden die Ideen und Kreationen des deutschen Industriedesign-Pioniers weitergelebt. Dass für das Design verschiedener Produkte von Apple Elektronikgeräte Pate standen, die Rams während seiner Zeit bei Braun entworfen hat, lässt sich nur schwerlich leugnen.
Jonathan Ive, als Vater des modernen Apple-Stils gerühmter Designer, macht auch gar kein Hehl aus seiner Bewunderung für das Schaffen von Dieter Rams. Er hat seinem Vorbild sogar einmal einen iPod-Touch geschickt, verbunden mit einem Brief, in dem er den Einfluss darlegte, den Braun-Geräte auf sein Empfinden von Ästhetik gehabt haben. Der Empfänger dieser sehr besonderen Fanpost wiederum nimmt die Ähnlichkeit der Apple-Produkte zu seinen eigenen als Kompliment. Während einige seiner Design-Kollegen von Plagiat und Ideenklau sprechen, findet Rams seine zehn Thesen im Werk von Jonathan Ive wieder. Und er freut sich darüber.
Denn auch wenn diese Thesen gleichermaßen einfach wie prägnant sind, auch wenn sie noch so nachvollziehbar und begrüßenswert sind: In der Design-Industrie der Gegenwart finden sie oftmals wenig Beachtung. Statt neue, innovative Impulse zu setzen – ein Ansatz, der bisweilen Mut erfordert – wird dem Zeitgeist, der sich rasend schnell über das Internet verbreitet, hinterher gehechelt und mit dem Strom geschwommen. Statt Umweltverträglichkeit und Langlebigkeit – auch dies zwei der Thesen von Dieter Rams – regiert die Idee des kurzfristigen wirtschaftlichen Nutzens. Massenhaft werden Produkte mit festgelegter Lebensdauer auf den Markt geworfen. Die gekaufte Glühbirne von heute ist die kaputte Glühbirne von morgen ist die gekaufte Glühbirne von übermorgen. Bei einem solchen Konzept kann von gutem Design gemäß Rams nicht die Rede sein. Für Design, das in vielen Jahren einmal zeitlos genannt werden wird, können diese, kurzlebigen Trends folgenden, Produkte zu wenig Einfluss entfalten.
Industrialisierte Revolutionen
Im Bereich der Architektur war es der Österreicher Adolf Loos, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Konzentration auf Funktionalität bei gleichzeitigem Verzicht auf Ornamente und ähnlich schmückendes Beiwerk postulierte. Loos wird damit ebenso zu den bedeutenden Wegbereitern der Moderne in Architektur und Design gezählt wie die Protagonisten des Staatlichen Bauhaus. Während es Loos jedoch um eine reflektierte Fortführung des Traditionellen ging, arbeiteten die Bauhaus-Künstler bewusst am Aufbruch in eine neue Zeit. Ihr Ziel war es, der zunehmenden Industrialisierung Rechnung zu tragen und ihr durch die Verwendung industrieller Materialien wie Glas und Stahl gerecht zu werden.
Die Einfachheit und Klarheit der Formen des Bauhaus, die bis heute stilbildend wirken, waren nicht zuletzt dem Drang nach preiswerter Produktion geschuldet und somit ein Ergebnis der damaligen industriellen Möglichkeiten. Ähnlich verhält es sich mit dem Plastic Chair des amerikanischen Ehepaars Charles und Ray Eames, dem ersten industriell gefertigten Stuhl aus Kunststoff überhaupt. Auch dieser wurde zum Ende der 1950er Jahre unter Verwendung der damals neuesten technischen Gegebenheiten auf den Markt gebracht. Auch er stellte eine Revolution in Sachen Design dar: Und auch seiner Gestaltung, die höchsten Ansprüchen an Leichtigkeit, Materialökonomie und Komfort genügte, wurde von späteren Generationen das Prädikat zeitlos verliehen. Mit zurückhaltender Eleganz und funktionaler Ästhetik fügt er sich bis heute nahtlos in viele Wohnhäuser und Messestände ein, ohne sich in den Vordergrund zu drängen.
Form follows emotion
Was heute als zeitlos gilt, war zu seiner Zeit also höchst innovativ, ein konsequentes Nutzen der neuesten industriellen Möglichkeiten – weg von den Schnörkeln und Verzierungen der jeweiligen Handwerkszunft, hin zu einer universellen Formsprache; von Maschinen in tausendfacher Ausführung gefertigt. Heute haben Produktionsprozesse und Materialien längst einen Stand erreicht, der Designern ein Vielfaches an Möglichkeiten bietet. Schnörkel müssen inzwischen nicht mehr per Hand geschnitzt werden, sondern kommen perfekt aus der 3D-Fräse. Spätestens seit dem Aufkommen der Halbleitertechnik werden die funktionalen Komponenten von Produkten immer kleiner und die Herstellungskosten immer geringer.
In der Folge weisen ähnliche Produkte kaum noch technische Unterschiede auf. Um sich von der Konkurrenz abzuheben, gewinnt die äußere Form für die Produzenten immer mehr an Bedeutung. Die Konsumenten messen dem Design bei der Kaufentscheidung eine immer größere Rolle zu. Diese Tatsache macht sich die Konsumgüterindustrie mehr und mehr zu Nutze, indem sie dem Design vor allem die Funktion zuschreibt, einem Produkt ein bestimmtes emotionales Profil zu verleihen. Hieß es früher »Form follows function«, heißt es heute immer häufiger »Form follows emotion«. Wurde Design früher oft als Nebensache verkannt, wird es heute zur Hauptsache erhoben. Doch auch wenn führende Designer unserer Zeit, wie Jonathan Ive, Zaha Hadid oder die Architekten Herzog & De Meuron die neuen technischen Möglichkeiten und Materialeigenschaften bis an Ihre Grenzen ausschöpfen, verlieren sie dabei die altbewährten Grundsätze nicht aus dem Auge.
Zeitloses Design und kurzfristig erfolgreiches Design müssen keine Gegensätze bilden. Bei aller Euphorie um die neuen Möglichkeiten spielen der Einfluss des Bauhaus und die zehn Thesen für gutes Design noch immer eine große Rolle – wenn nicht sogar eine immer größere.
Ursprünglich erschien dieser Artikel im vergangenen Sommer in der Premierenausgabe von »W.Do«. Für dieses Corporate Magazine eines Messebau-Unternehmens schrieb ich im Auftrag der Aachener Kommunikations- und Design-Agentur »wesentlich.«.