Zum Beispiel mein Opa Fritz: Mitte der 90er Jahre wurde im Haus gegenüber seiner Wohnung eine Unterkunft für Menschen eingerichtet, die den Wirrungen und der Gewalt des damals tosenden Jugoslawienkonflikts entkommen waren. Und während in der Nachbarschaft noch viele Leute überlegten, wie diese Situation jetzt zu nehmen sei, machte mein Opa einfach Nägel mit Köpfen. Kein Mann großer Worte, brachte er allmittäglich Selbstgekochtes – und Opa Fritz konnte grandios kochen – in Töpfen über die Straße, auf dass die neuen Nachbarn etwas Feines zum Essen hätten. Schnell entstanden durch seine Mittagsbesuche regelrecht freundschaftliche Kontakte. Vor meinem inneren Auge sehe ich meinen Opa noch in der Abendsonne auf dem Bürgersteig stehen, mit zwei etwa gleichaltrigen Männern ohne gemeinsame Sprache in ein Gespräch vertieft, gestenreich, einander zugewandt, lachend.
Es geht vor allem darum, sich in der Fremde willkommen zu fühlen. Tatsächlich willkommen zu sein. Nur so lässt sich der Verlust der Heimat und die riesige Herausforderung, quasi bei Null anzufangen, irgendwie verkraften. Mein Opa hat das gewusst, sicher auch aus eigener Erfahrung. Er selbst wuchs nicht in dem Ort auf, in dem er weite Teile seines Lebens lebte. Der Zweite Weltkrieg hatte ihn in diese schon bald neue Heimat gespült.
Auch meine Oma Lieschen, seine Frau, wusste, wie es sich anfühlt, wenn eine fremde Tür mit einem Lächeln geöffnet wird. Vor der herannahenden Front floh sie in Richtung Göttingen. Die Menschen, bei denen sie dort unterkam, blieben bis zum Tod meiner Oma enge Freunde unserer Familie. Ganz anders wiederum die Geschichte meiner Schwiegermutter: Im Alter von zehn Jahren machte sie mit ihren Eltern »rüber in den Westen«. Den Kindern in ihrem neuen Zuhause wurde verboten, mit ihr zu spielen. Weil sie eine Fremde war. Bis heute nimmt sie dieser Teil ihrer Biographie mit. Sie war nicht willkommen. Sie hat es nie verstanden.
Und wir? Auch in unserer Zeit ist es schön, willkommen geheißen zu werden. Das Schokolädchen auf dem Kissen des Hotelbetts, die Umarmung nach vier Stunden im Stau, der Strauß Blumen am Bahnhof: Wir kennen das, wir genießen das. Und darum sollten wir alle verstehen, dass gerade die Menschen unser herzliches Willkommen brauchen, die weit mehr hinter sich haben als eine Zugfahrt oder ein bisschen Stau. Viele tausend Menschen sind gegenwärtig unterwegs, nicht selten schon seit Monaten. Sie wollen Chaos und Gewalt entkommen, eine Chance auf ein friedliches Leben erhalten. Dafür haben sie alles zurückgelassen, um nach ihrer Ankunft quasi bei Null anzufangen. Ein Gefühl des Willkommenseins ist das Mindeste, was wir ihnen geben können.
Dankenswerterweise haben Nico Lumma, Paul Huizing, Karla Paul und Stevan Paul die Initiative »Blogger für Flüchtlinge – Menschen für Menschen« ins Leben gerufen. Nur zu gerne möchte ich auf sie und die damit verbundene Spendenaktion aufmerksam machen. (Dass die vier Initiatoren von Haus aus über sehr unterschiedliche Dinge – Politik, Essen, Literatur – bloggen, macht noch einmal deutlich, wie sehr dieses Thema schlichtweg alle angeht.) Mein Opa Fritz wäre vor wenigen Wochen 98 Jahre alt geworden. Keine Sekunde seines Lebens hat er »im Internet« verbracht. Ich bin mir sicher, er würde diese Initiative lieben.
Über Initiativen und Möglichkeiten, Flüchtenden hier vor Ort in Bonn zu helfen hat Johannes drüben bei Bundesstadt.com geschrieben. Derweil sucht der Verlag »The Grooves« noch Übersetzerinnen und Übersetzer für sein ehrenamtliches Sprachlern-Projekt für Flüchtende. Weitere Informationen dazu finden sich unter diesem Link.
Sehr schön geschrieben. Bringt es wirklich auf den Punkt. Danke.
Selber danke!
Der Bericht hat mich sehr berührt! Heute besuchte ich einen »Kaffeeklatsch«, bei dem auch das Thema »Flüchtlinge« aufs Tapet kam. Viele Gäste waren 80 Jahre und älter, gehören also zur Kriegsgeneration. Sie haben Evakuierung und Gefangenschaft erlebt und durch ihre Erfahrungen sehen sie unser »Flüchtlingsproblem« aus einem ganz anderen Blickwinkel. Da stehen die Menschen im Fokus und ihre schrecklichen Schicksale. Sind wir, geboren in der Wirtschaftswunderzeit und später, zu Egoisten geworden? Haben wir Angst, dass die Flüchtlinge unseren Lebensstandard verschlechtern? Die heutigen Gespräche mit den alten Menschen haben mich sehr nachdenklich gemacht.
Ich glaube nicht, dass alle, die Krieg nicht mehr aus erster Hand kennen, Egoisten sind. Dafür bekomme ich an zu vielen Ecken mit, wie Leute – Wirtschaftswunderzeitgeborene und jünger – den Flüchtlingen voller Empathie, Tatkraft und, ja, Nächstenliebe zur Seite stehen. Mit Sachspenden, mit Hilfe bei Behördengängen und womit nicht noch alles. Bis jetzt haben sie das in aller Stille getan.
Aber in Anbetracht immer lauter und schriller brüllender, immer hemmungsloser agierender »besorgter Bürger« (so deren Eigenwahrnehmung) wird es mit dieser Stille vorbei sein müssen. Gutes tun, drüber reden und andere mitreißen. Auf dass die Rassisten und Fremdenfeinde (so die aufgrund ihrer Handlungen akkuratere Beschreibung) nicht weiter auf den Gedanken kommen, sie gröhlten im Namen der Mehrheit unserer Gesellschaft.