Auf der Tour zum musikalischen Sprung nach vorn kommt Shearwater am 29.6. auch nach Münster.
Wenn Jonathan Meiburg nicht gerade eine Gitarre in der Hand, Pianotasten unter den Fingern oder ein Mikrofon vor dem Gesicht hat, beschäftigt er sich normalerweise mit der Artenvielfalt der Vögel. So könnte man zumindest annehmen: Bis zur Veröffentlichung von »Jet Plane and Oxbow« im Januar tauchte irgendwie ständig und überall Gefieder im Zusammenhang mit den Alben seiner Band Shearwater auf – auf den Covern, in den Liedtiteln, in den Texten, in den Booklets.
Letztlich trägt ja sogar die Band des studierten Ornithologen Meiburg einen Vogelnamen. Shearwater ist der englische Begriff für den Großen Sturmtaucher. Puffinus gravis, wie der Lateiner sagt, wenn er über diesen Seevogel spricht. Und plötzlich enthält das neue Album keinen einzigen Piepmatz mehr – nicht auf dem Cover, nicht in den Liedtiteln, nicht in den Texten. Was ist denn da los, Herr Meiburg?
Schluss machen
»Meine Idee für ›Jet Plane and Oxbow‹ [Partnerlink] war, ein Protestalbum zu machen, das nicht dämlich oder belehrend daherkommt«, erklärt der 40-Jährige. »Eher so wie ein Brief, in dem man Schluss macht. Zornig und zärtlich zugleich, weil man ihn doch noch irgendwie mit Liebe schreibt.« Tatsächlich hat er die Idee dieses zornig zärtlichen Albums in die Tat umgesetzt – je schöner die Melodie, desto anklagender der Text, je nebulöser die Zeile, desto klarer der Klang.
Und es gibt schließlich auch soviel, mit dem man in diesen Tagen Schluss machen möchte. Vögel gehören im Gegensatz zu einer ganzen Reihe von Menschen nicht dazu. Darum haben sie auf »Jet Plane and Oxbow« schlichtweg keinen Platz gefunden. Da muss man eben auch als passionierter Vogelkundler und Musiker Prioritäten setzen.
Prioritäten setzen
Mit dem Setzen von Prioritäten hat Jonathan Meiburg ohnehin noch nie wirklich Probleme gehabt. Am Anfang hatten er und sein Kollege Will Sheff nur ein Vehikel gesucht, um abseits ihrer gemeinsamen Tätigkeit bei Okkervil River auch mal ruhigere Sachen zu veröffentlichen. Ihre Stammband schien ihnen dafür nicht geeignet, also brachten sie ein davon unabhängiges Projekt an den Start.
Shearwater war geboren und kam schon bald so gut bei den Leuten an, dass Okkervil River und Shearwater nicht mehr nebeneinander unter einen Zeitmanagementhut passten. Eine Entscheidung musste her. Eine Entscheidung wurde gefällt. Und so blieb Sheff bei der Stammband, während Meiburg aus dem Nebenprojekt seine Hauptsache machte.
Von Anfang an hat sich diese Hauptsache mitreißend auf gleich mehreren Genrespielwiesen ausgetobt. Irgendwo zwischen Indierock, Folk, Postpunk und Psychedelia ließ sich der Sound der Band verorten. Aus dem texanischen Austin kommend, klangen sie immer ein wenig wie die zeitgenössische Entsprechung zu den Talking Heads. Oder zum frühen David Bowie. Mit einem ordentlichen Hauch Arcade Fire. Analog zur Vogellosigkeit hat sich auch das mit dem aktuellen Album gewandelt.
Elektronischer als seine Vorgänger ist es geworden, melancholischer und doch gleichzeitig lauter. Wie es eben klingt, wenn man in einem Brief Schluss macht oder wenn man ein irgendwie liebevolles Protestalbum schreibt. Veränderung und spürbarer Spaß an ihr: »Jet Plane and Oxbow« wirkt ein wenig, als habe die Band einen Sprung nach vorn getan, auf den sie sich schon lange gefreut hatte.
Große Geste, große Freiheit
Womit nun Zeit für das große Aber wäre: Die Leute von Shearwater haben sich musikalisch nicht in allen Bereichen neu erfunden. Manche Dinge waren einfach immer schon zu gut, als dass man an ihnen hätte herumschrauben müssen. Da ist der Hang zu den kleinen, feinen Melodien bei gleichzeitiger großer Geste, den die aktuell als Sextett firmierende Band auch nach dem großen Sprung hegt und pflegt.
Da ist die Freiheit herumzuexperimentieren, die sich Meiburg und Co auch 15 Jahre nach Bandgründung noch im großen Stil einräumen. Da ist die Vorliebe für weit ausholenden Pathos und augenzwinkernde Theatralik, die in den Songs von Shearwater nach wie vor problemlos nebeneinander existieren können. Und da ist natürlich das bei allen Bandmitgliedern vorhandene feine Händchen für großartige Livemusik und intensive Konzerte. Ende Juni kann sich Münster selbst ein Bild davon machen. Der Große Sturmtaucher sei allen ans Herz gelegt.
Eine leicht gekürzte Fassung dieses Artikels erschien ursprünglich in Ausgabe 12/16 des Münsteraner Stadtmagazins »Ultimo«. Das Foto von Jonathan Meiburg entstammt dem Pressematerial seines Plattenlabels.
Der im Text mit [Partnerlink] markierte Verweis wurde von mir im Rahmen meiner Teilnahme am Partnerprogramm der Amazon EU S.à r.l. gesetzt. Weitere Hinweise dazu finden sich im Impressum dieser Seite.