Im Rahmen der »Lit.Eifel« lotet 1Live-Programmchef Jochen Rausch menschliche Abgründe aus. Am 30. September kommt er mit seinem aktuellen Buch »Rache« für eine Lesung nach Eupen.
Es dauert nicht lange, da geht das bis dahin intakte Leben den Bach hinunter. Beherrschung, Arbeitsstelle, Frau: In dieser Reihenfolge verliert ein Kölner Jobcenter-Mitarbeiter alles. Von jetzt auf gleich, alles weg. Und das nur, weil er auf die denkbar schlechteste Ratgeberin gehört hat, die die Menschheit kennt. Seit wir von den Bäumen stiegen und uns unserer Gefühle bewusst wurden, haben wir sie am Hals – die Rache. Sie ist die große, zornige und vor allem gewalttätige Schwester der Revanche. Sie macht sogar süchtig, rachsüchtig. Die Beispiele, in denen sie jemandem einmal wirklich nützlich war, sind überschaubar, die Gegenbeispiele wie die Geschichte dieses Jobcenter-Mitarbeiters hingegen Legion. Immerhin ist seine Geschichte nur ein fiktives Gegenbeispiel, eines von insgesamt elf im neuen Buch von Jochen Rausch.
Ende März erschienen, trägt es den zentral verhandelten Gegenstand seiner intensiven Kurzgeschichten gleich als Namen: »Rache« [Partnerlink]. Am 30. September wird der Autor im Eupener Jünglingshaus aus seinem jüngsten Werk lesen. Die Lesung gehört zum Programm der diesjährigen »Lit.Eifel«.
Rausch, neben seiner schreibenden Tätigkeit auch Musiker und Programmchef des Radiosenders 1Live, steht mit dieser Sammlung von Kurzgeschichten in großer Tradition. Die Auseinandersetzung mit der Rache ist nicht viel jünger als die Rache selbst. Von der Bibel bis zur Ilias, vom rot sehenden Charles Bronson bis zur Bill killenden Uma Thurman, von der wilden Gerechtigkeit Francis Bacons bis zum am besten kalt servierten Nachtisch der Klingonen ist sie neben der Liebe die meist beschriebene urmenschliche Gefühlswallung in Hoch- und Popkultur. Jochen Rausch fügt diesen Beschreibungen elf neue Perspektiven hinzu. Wie schon in seiner früheren Erzählsammlung »Trieb« tut er das fast beiläufig, sprachlich auf das Wesentliche reduziert.
Umso eindringlicher wirken auch diesmal seine nur scheinbar kleinen Kurzgeschichten. Ihre Handlungsorte liegen quer durch Deutschland verteilt – in Provinz und Großstadt, am Rande der Gesellschaft und in ihrer Mitte. Im Nu lässt sich von diesen Erzählungen darum auf das Große schließen, auf die allerorten zunehmende Gereiztheit und die daraus resultierende Allgegenwart niederer Instinkte. »Die Obergrenze des Erträglichen scheint immer weiter abzusinken«, sagt der Autor selbst. »Man spürt ja, wie schnell man Streit bekommen kann mit Leuten, die dasselbe Zugabteil oder dieselbe Autobahn benutzen.«
Der Bogen, den er von derlei Streitigkeiten zum Racheakt schlägt, hat das Zeug zur Gesellschaftsdiagnose. Rausch hält uns allen den Spiegel vor, zeigt uns unsere eigene Reizbarkeit. Um das Ausrasten und die stumpfe Darstellung von Gewalt geht es ihm dabei nur am Rande. Ebenso wenig um Einordnung oder Bewertung des Erzählten. Er will an die Mechanismen dahinter.
»Ich bin überzeugt, dass jeder Mensch an einen Siedepunkt gebracht werden kann, an dem jegliche Vernunft aussetzt«, sagt er. Gerne folgt man ihm auf seiner Reise zu diesen Siedepunkten, in die Zonen zwischen Gut und Böse, zwischen Schuld und Unschuld, zwischen Schwarz und Weiß. In diesen Zwischenräumen stecken sie, die Kränkungen und Erniedrigungen, hier spitzen sich Konflikte zu, hier entwickelt sich, was die Protagonisten nach Rache dürsten lässt.
Und ja, hier entsteht bisweilen auch das Verständnis des Lesers für den Rachsüchtigen, für den Missbrauchten, das Stasiopfer oder das von der ungerechten Welt müde Paar – ganz in Abhängigkeit von der Nähe zum eigenen Siedepunkt. Da ist er, der Spiegel. Niemand ist vor dem Gedanken an Rache gefeit. Wie also den ersten Stein schmeißen? Und warum überhaupt? Ein konstruktiver Umgang mit dem Blick in den Spiegel wäre doch viel sinnvoller. Jochen Rausch: »Nähmen alle Menschen mehr Rücksicht aufeinander, könnten sie großzügiger Fehler anderer ertragen, dann gäbe es sicher viel weniger Gewalt auf dieser Welt. Aber das ist nur eine schöne Utopie.« An dieser Utopie arbeiten könnte man ja trotzdem. Es wird sich schon nicht rächen.
Dieser Artikel erschien ursprünglich im »Grenzecho«, der deutschsprachigen Tageszeitung für Ostbelgien.
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