Einstürzende Neubauten: »Lament«

Einstürzende Neubauten: Der Krieg bricht nicht aus

Ver­gan­ge­nen Sonn­tag habe ich zum Ers­ten Welt­krieg getanzt. Und ich war bei wei­tem nicht der ein­zi­ge. Dass es soweit kom­men muss­te, lag ein­zig an den Ein­stür­zen­den Neu­bau­ten. Diks­mui­de, eine bel­gi­sche Stadt in West­flan­dern, hat­te die­se damit beauf­tragt, sich zum Anlass der dor­ti­gen Gedenk­fei­ern musi­ka­lisch mit dem Ers­ten Welt­krieg aus­ein­an­der­zu­set­zen. Einen Tag nach der Pre­miè­re von »Lament« eben in Diks­mui­de prä­sen­tier­ten die Her­ren Bar­geld, Hacke, Unruh, Arbeit und Moser die Ergeb­nis­se die­ser Aus­ein­an­der­set­zung im Zink­hüt­ter Hof in Stolberg.

»Lament« ist ein vier­zehn­tei­li­ges Werk, das sich dem Welt­krieg aus ver­schie­de­nen Rich­tun­gen nähert. Etwa mit der Ver­to­nung der Tele­gramm-Kor­re­spon­denz zwi­schen Zar Niko­laus und Kai­ser Wil­helm II., ihres Zei­chens Cou­sins. Oder mit zwei Wer­ken der Har­lem Hell­figh­ters, der Mar­ching Band einer rein afro-ame­ri­ka­ni­schen Ein­heit, die damals unter fran­zö­si­sches Kom­man­do gestellt wurde.

Beson­ders zwei Stü­cke sind bei mir vom Auf­tritt in Stol­berg hän­gen­ge­blie­ben: »Pater Pec­ca­vi«, des­sen musi­ka­li­sche Basis eine acht­stim­mi­ge Mot­te­te bil­det. Deren Kom­po­nist ver­brach­te wei­te Tei­le sei­nes Lebens in Diks­mui­de. Hier ent­stand ver­mut­lich auch die Mot­te­te, die vom ver­lo­re­nen Sohn, dem Pro­di­gal Son han­delt. Über die Strei­ch­er­klän­ge des Stücks sind immer wie­der Stim­men zu hören. Es han­delt sich um Ton­band­auf­nah­men von Kriegs­ge­fan­ge­nen, die wäh­rend ihrer Gefan­gen­schaft für Sprach­wis­sen­schaft­ler ein Gedicht auf­sa­gen muss­ten. Des­sen Titel: The Pro­di­gal Son. Eine Koin­zi­denz zwei­er »ver­lo­re­ner Söh­ne«, die von den Ein­stür­zen­den Neu­bau­ten in die­sem bewe­gen­den Stück Musik zusam­men­ge­führt wor­den sind.

Bei dem ande­ren hän­gen­ge­blie­be­nen Stück han­delt es sich um die »Per­cus­sion Ver­si­on« des Ers­ten Welt­kriegs, womit wir dann auch beim Tan­zen ange­kom­men wären. Das Werk ist irgend­wo zwi­schen Mathe­ma­tik, Musik­theo­rie und Man­tra­ar­ti­gem ange­sie­delt – 120 bpm, jeder Takt­schlag ein Kriegs­tag, was ins­ge­samt eine Län­ge von etwas über 13 Minu­ten nach sich zieht. Wäh­rend die­ser Zeit wird jedes Land, das in den Krieg ein­tritt, durch ein Schlag­in­stru­ment reprä­sen­tiert. Ergän­zend wis­pern Frau­en­stim­men Namen mar­kan­ter Orte und Schlacht­fel­der, wäh­rend Blixa Bar­geld die Namen der betei­lig­ten Län­der auf­zählt. Spä­tes­tens zum Jahr 1916 wipp­te das gesam­te Publi­kum min­des­tens mit dem Kopf. Zu hyp­no­tisch das Stück, zu mit­rei­ßend der Rhyth­mus, den die Urka­ta­stro­phe des 20. Jahr­hun­derts vor­ge­ge­ben hat. Viel­leicht haben sich damals die­je­ni­gen ähn­lich mit­ge­ris­sen gefühlt, die mit lau­tem »Hur­ra!« auf die Schlacht­fel­der zogen. Ein ein­drucks­vol­les Erlebnis.

In einem Inter­view mit Kol­le­ge Olaf Neu­mann hat­te Blixa Bar­geld vor­ab ange­kün­digt, dass er und sei­ne Mit­mu­si­ker die Schön­heit selbst in den mor­bi­des­ten Momen­ten gesucht hät­ten. Nach mei­nem Ein­druck haben sie es an vie­len Stel­len die­ser 14 Stü­cke gefun­den. »Lament« [Part­ner­link] war in Kon­zert­form eine groß­ar­ti­ge Per­for­mance. Auf Plat­te gibt es das Gan­ze auch. Bar­geld hat­te die­se im sel­ben Inter­view als »flach gepress­te Vari­an­te die­ses Büh­nen­werks« bezeich­net. Nach dem Hören weiß ich, was er damit wohl gemeint hat. Die ein­zel­nen Stü­cke funk­tio­nie­ren auch auf die­sem Weg, aller­dings fehlt ihnen das Beein­dru­cken­de der zuge­hö­ri­gen Per­for­mance. Wer die Chan­ce bekommt, »Lament« live zu sehen und zu hören, soll­te sich die­se auf kei­nen Fall ent­ge­hen lassen.

Der im Text mit [Part­ner­link] mar­kier­te Ver­weis wur­de von mir im Rah­men mei­ner Teil­nah­me am Part­ner­pro­gramm der Ama­zon EU S.à r.l. gesetzt. Wei­te­re Hin­wei­se dazu fin­den sich im Impres­sum die­ser Seite.

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