Die Natur macht es vor, der Mensch macht es nach. Längst ist die Verbindung von Biologie und Technik zu einer eigenen Wissenschaftsdisziplin erwachsen: der Bionik.
Im Grunde ist die Evolution nichts weiter als eine große Versuchsanordnung, ein riesiger, uralter Trial-and-Error-Experimentierkasten. Die Fortentwicklung vererbbaren Materials einer Spezies bei dessen Weitergabe an die nächsten Generationen verläuft völlig zufällig und richtungslos. Gleichzeitig ist sie aber auch der Notwendigkeit geschuldet, sich im Sinne des eigenen Überlebens an sich ändernde Umgebungsbedingungen anzupassen. Verschiedene Faktoren ermöglichen diese faszinierende Anpassung und sorgen insgesamt für die Vielfalt des Lebens, die sich bei Mutter Natur finden lässt. So entstehen durch Mutationen unterschiedliche Versionen des ursprünglichen Materials, während Rekombination die dem Genmaterial zugrunde liegenden Informationen neu anordnet.
Aller Fortentwicklung zum Trotz haben sich jedoch manche Konzepte, manche Entwürfe – Tiere oder Pflanzen, aber auch Mechanismen oder Prozesse – im Lauf der Evolution schlicht und ergreifend nicht durchgesetzt. Sie sind als Opfer der natürlichen Selektion auf der Strecke geblieben. Diejenigen aber, die es bis zum heutigen Tag geschafft haben, dürfen sich als vorläufige Gewinner der Evolution fühlen. Sie sind die brauchbaren Ergebnisse dieser schier unendlichen Versuchskette. In Sachen Tauglichkeit und Funktionstüchtigkeit sind sie selbst, ihre Lösungsmuster und Prozesse über Jahrmillionen erprobt – Prozesse wie etwa die beeindruckende Reproduktion der DNA, die an eine automatisierte Produktionsstraße mit mehrfacher, akribischer Qualitätskontrolle erinnert. Es überrascht daher nicht, dass sich der Mensch diese bewährten Techniken, Mechanismen und Lösungen der Natur im Rahmen der Bionik zunutze macht.
Inspirationsquelle Nummer Eins
Die Ursprünge der Bionik sind nicht exakt festzumachen. Wann genau welcher Mensch erstmals auf die Idee kam, sich von der Natur inspirieren zu lassen, ist nicht überliefert. Vielleicht war es ein römischer Feldherr, der seine Legionen mit ihren Schilden die sogenannte Schildkrötenformation bilden ließ, weil der Panzer der Schildkröte doch so effizient als Schutz vor Gefahren von außen fungiert. Vielleicht war es aber auch erst Leonardo da Vinci, der die Bionik, auch Biomimetik genannt, so richtig ins Rollen brachte. Zumindest wird seinem Ansatz, einen Flugapparat nach dem Vorbild des Flügelschlags der Vögel zu konstruieren, nachgesagt, die erste Verschriftlichung einer bionischen Idee zu sein. Oder zumindest die erste Idee, die man auch heute noch nachlesen kann.
Allerdings existierte der Begriff »Bionik« zu da Vincis Zeiten noch gar nicht. Erstmals nachweislich gebraucht wurde dieser viele Generationen später, im Jahr 1960. Seinerzeit hielt der amerikanische Luftwaffenmajor Jack E. Steele einen Vortrag zum Thema »Lebende Prototypen – der Schlüssel zu neuer Technologie«. Er überschrieb ihn mit »Bionics Symposium« und gab dem Phänomen quasi im Vorbeigehen einen Namen – dem Phänomen, das damals schon seit vielen Hundert Jahren immer neue Anhänger gefunden hatte. Denn spätestens seit da Vinci machten sich Erfinder, Quer- und Vordenker daran, die Entwicklungen der Natur zu analysieren, daraus entstehende Erkenntnisse zu abstrahieren und auf Anforderungen ihres Alltags zu übertragen. Im Rahmen der technischen Gegebenheiten ihrer jeweiligen Zeit adaptierten sie nützliche Mechanismen der Natur und formulierten so oftmals überraschende, vor allem aber effiziente Lösungen für Problemstellungen des menschlichen Lebens. Anfangs noch sehr primitiv in der Umsetzung, hat die Bionik gerade im Lauf der vergangenen hundert Jahre immer weiter an Fahrt aufgenommen. Vor allem neue Materialien und Herstellungsprozesse bringen immer neue Möglichkeiten mit sich.
Natürlich haben nicht nur Gebrauchsgegenstände ihren Ursprung in der Biomimetik. Die Beschichtung von Unterwasserfahrzeugen ist der Haut von Delphinen nachempfunden, deren Orientierungssinn auch bei der Entwicklung des Echolots Vorbild war. Schmutz abweisende Oberflächen ergaben sich bei der Analyse der Beschaffenheit von Lotuspflanzen, und durch Beobachtung des Fluges von Gleitvögeln ließen sich Flugzeugflügel so weit optimieren, dass die Maschinen heutzutage bis zu 10 Prozent weniger Energie verbrauchen als früher. Eine Reduzierung des Energieverbrauchs, ressourcenschonende Technik und somit Nachhaltigkeit sind Aufgabenstellungen der Gegenwart und Zukunft, auf die sich ebenfalls Antworten in der Bionik finden lassen.
Auf der Hannover Messe im Frühjahr 2014 wurde etwa ein Roboter präsentiert, der sich wie ein Känguru hüpfend fortbewegt. Die Energie, die bei der Landung entsteht, wird gleich in den nächsten Sprung investiert. Für das Känguru ist diese Art der Fortbewegung ein alter Hut. Den Menschen bringt sie dem ewigen Traum vom Perpetuum Mobile eventuell einen Schritt – oder besser: Sprung – näher.
Leichtbaugräser und Hummerpavillon
Neben der Adaption problemlösender Prozesse und der Kreation energieeffizienter Technik sind Bioniker auch zunehmend in die Entwicklung neuer Materialien involviert. In Baden-Württemberg wurde mit dem »Kompetenznetzwerk Biomimetik« ein interdisziplinär arbeitendes Netzwerk gegründet, dessen Akteure sich mit der Übertragung von Problemlösungen aus der Natur in die Technik befassen. Ein Aspekt dieses Netzwerks ist eben die Entwicklung neuartiger Materialien wie die des »technischen Pflanzenhalms«. Inspiriert durch die Leichtbaukonstruktion von Gräsern, wurde ein bionisches Faserverbundmaterial geschaffen, das mit Leichtbau und Stabilität gleichermaßen überzeugt. Ein weiteres Beispiel ist die Kreation nicht begehbarer Oberflächen, deren Prinzip mit Hilfe des Kartoffelkäfers entschlüsselt wurde. Nach seinem Vorbild entwickelten Wissenschaftler künstliche Oberflächen mit Mikrostrukturen, auf denen Insekten nicht anhaften können – eine etwa im Hinblick auf ungezieferfreie und dadurch weniger wartungsintensive Klimaanlagen hochinteressante Errungenschaft.
Derlei Entwicklungen eröffnen auch Architekten völlig neue Möglichkeiten. Ein in diesem Zusammenhang spannendes Projekt fand Ende 2012 ebenfalls in Baden-Württemberg, an der Universität Stuttgart, seine Umsetzung. Dort errichteten Studierende einen Pavillon, dessen Form, vor allem aber dessen Entstehung seine Entsprechung in der Natur fand: im Außenskelett des Amerikanischen Hummers. Dieses setzt sich aus einem weicheren und einem härteren Teil zusammen. Bestimmt wird der jeweilige Härtegrad durch Chitinfasern, deren Lage und Ausrichtung sich an den lokalen Anforderungen an das Skelett orientieren. Je stärker die Anforderung, desto dichter die Faseranordnung, desto härter das Außenskelett. Nach diesem Prinzip entstand auch der Stuttgarter Forschungspavillon.
Dieser wurde aus in Harz getränkten Glas- und Carbonfasern quasi gewickelt. Baumeister war dabei ein Roboter, der während des Anordnens der Fasern kontinuierlich mit Daten zur nötigen Belastbarkeit der jeweiligen Stellen gefüttert wurde. So galt beim Pavillon wie beim Hummer: je stärker die Anforderung, desto dichter die Faseranordnung, desto stärker die Außenhülle. Die Standdauer des Pavillons war zeitlich begrenzt, sodass man dieses ästhetische Beispiel für den Einsatz bionischer Prinzipien in der Architektur nicht mehr besichtigen kann. Doch es werden andere Beispiele kommen. Ständig eröffnen sich Bionikern neue Felder ihres Wissenschaftszweiges, in denen sie zuvor undenkbare Lehren aus den Künsten der Natur ziehen. Wer weiß, welche Tiere noch in den unerforschten Ecken der Tiefsee lauern? Und was wir künftig noch alles von ihnen lernen können? Zudem machen immer neue Fertigungstechniken die Imitation komplexer, natürlicher Formen möglich, von deren Übertragung aus der Natur wir bislang nur träumen konnten.
Mutter Natur hat den Tisch weiterhin reich gedeckt, während sich der Mensch selbst immer mehr Möglichkeiten schafft, von ihr zu lernen, sich von ihr inspirieren zu lassen, sie zu analysieren und ihre Problemlösungen zu adaptieren. Diese Kombination aus einer natürlichen Vielfalt an Prozessen, Mechanismen oder Strukturen und stetig wachsenden Handlungsmöglichkeiten des Menschen machen die Bionik zu einem unglaublich spannenden Betätigungsfeld für visionäre Wissenschaftler, Designer und Architekten.
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Auch im Ausstellungsbau: Wie bei Muttern
Dass die beiden Felder Bionik und Ausstellungsbau ebenfalls miteinander in Einklang zu bringen sind, zeigt sich nicht zuletzt bei der EXPO. Unter den Bauten, die für die Weltausstellungen der vergangenen Jahre entstanden sind, finden sich verschiedene, die auf das Prinzip der Biomimimetik zurückgehen. Herausragendes Beispiel ist dabei sicherlich »One Ocean«, Themenpavillon und eines der Hauptgebäude der EXPO 2012 im südkoreanischen Yeosu, bei dem vor allem die neuartige kinetische Fassade ins Auge sticht.
Das Verschattungssystem des Pavillons ist dem der Paradiesvogelblume nachempfunden. Tagsüber kontrollieren die beweglichen Lamellen der Fassade – aus glasfaserverstärktem Kunststoff gefertigt – den Lichteinfall im Gebäude. Sie lassen sich einzeln öffnen und schließen, sodass auf der gesamten Länge von »One Ocean« eine wellenartige Choreographie sichtbar wird. Nach dem Sonnenuntergang wird dieser visuelle Effekt noch durch den Einsatz von LED-Leuchten verstärkt. Neben dem Lichteinfall regulieren die Lamellen zudem noch die klimatischen Verhältnisse im Inneren des Pavillons. Auch hier gehen also Bionik und ressourcenschonende Konzeption Hand in Hand.
Ursprünglich erschienen dieser Artikel und der Zusatztext zum Ausstellungsbau im vergangenen Sommer in der zweiten Ausgabe von »W.Do«, dem Corporate Magazine eines Aachener Messebau-Unternehmens. Das gesamte Heft drehte sich um das Thema »Material«. Schon zur Premierenausgabe »Zeit« hatte ich mehrere Texte beigetragen, unter anderem einen zu zeitlosem Design.