Ausstellung »Der Bend ist auf«: Leben auf Achse

Ausstellungskatalog »Der Bend ist auf«, Seiten 64 und 65

Sie sind Herz und See­le eines jeden Volks­fes­tes, sind Geschäfts­leu­te, die mit dem Schrau­ben­schlüs­sel eben­so ver­siert umge­hen wie mit dem Taschen­rech­ner. Sie arbei­ten mit hoch­spe­zi­el­lem Know-How an ihren Gerä­ten und zei­gen sich gleich­zei­tig enorm fle­xi­bel und wand­lungs­fä­hig. Sie glau­ben an die Kraft der Gemein­schaft, sind Fami­li­en­men­schen und Lebens­künst­ler. Sie sind Schau­stel­ler. Und das meist schon seit Gene­ra­tio­nen. Ein Blick auf die fas­zi­nie­ren­de Gegen­wart und die beweg­te Ver­gan­gen­heit die­ser sehr spe­zi­el­len Branche.

Zwei­mal pro Jahr wird an Aachens Süs­ter­feld­stra­ße für etwa zwei Wochen eine fremd­ar­ti­ge und gleich­zei­tig ver­lo­cken­de, künst­li­che Land­schaft errich­tet. Immer rund um Ostern und im August lockt der Öcher Bend mit atem­be­rau­ben­den Fahr­ge­schäf­ten und wil­den Rie­sen­schau­keln, mit Auto­scoo­tern und Kin­der­ka­rus­sel­len, mit Los- und Schieß­bu­den. Ger­ne fol­gen die Men­schen dem Lockruf.

Stun­den­wei­se ent­flie­hen sie ihrem All­tag, hin­ein in eine Welt, die nach gebrann­ten Man­deln und Zucker­wat­te riecht – der­weil eine nie enden­de Kako­pho­nie aus Klin­geln, Tuten, Rum­sen, Knal­len, Rat­tern, Schep­pern, Bim­meln, Klir­ren, Lachen, Krei­schen, »Gewin­ne, Gewin­ne, Gewin­ne!« und Schla­ger­mu­sik dem fas­zi­nie­ren­den Durch­ein­an­der die per­fek­te Geräusch­ku­lis­se bietet.

Für Besu­che­rin­nen und Besu­cher währt die Begeg­nung mit die­ser Welt immer nur weni­ge Tage. Es gibt aber Leu­te, die in die­ser Welt leben. Mehr noch: die die­se Welt erschaf­fen. Es sind Schau­stel­le­rin­nen und Schau­stel­ler, die es sich zur Lebens­auf­ga­be gemacht haben, den Men­schen außer­ge­wöhn­li­che Erleb­nis­se qua­si vor ihren Haus­tü­ren zu ermög­li­chen. Für die­se Auf­ga­be sind sie gut zehn Mona­te im Jahr unter­wegs. Ein Leben vol­ler Frei­heit und Aben­teu­er schrei­ben ihnen Roman­ti­ker nicht völ­lig zu Unrecht zu. Min­des­tens zu glei­chen Tei­len ist es aber auch ein Leben vol­ler har­ter Arbeit. Und das war es schon immer.

Das fahrende Volk

Die Ursprün­ge des heu­ti­gen Schau­stel­ler­tums las­sen sich in der Mit­te des 19. Jahr­hun­derts ver­or­ten. Eng hän­gen die­se Anfän­ge mit der damals Fahrt auf­neh­men­den Indus­tria­li­sie­rung zusam­men. Wer noch wei­ter zurück­blickt, fin­det aber auch schon im frü­hen Mit­tel­al­ter kul­tu­rel­le Wur­zeln der­je­ni­gen, die heut­zu­ta­ge das Fun­da­ment eines jeden Volks­fests und jeder Kir­mes bilden.

Die Rede ist von den soge­nann­ten Fah­ren­den, die in vor­mo­der­nen Tagen von Jahr­markt zu Jahr­markt zogen. Wan­dern­de Berufs­leu­te wie Musi­kan­ten, Gauk­ler, Artis­ten oder Quack­sal­ber waren eben­so unter ihnen wie umher­rei­sen­de Hand­wer­ker und Kauf­leu­te. Die einen boten ihre Waren und Diens­te auf den Märk­ten an, die ande­ren bestrit­ten ihren Lebens­un­ter­halt mit unter­halt­sa­men Dar­bie­tun­gen und Kunst­stü­cken. Wie­der ande­re küm­mer­ten sich um klei­ne­re und grö­ße­re Weh­weh­chen oder ver­kauf­ten Sal­ben und Tink­tu­ren. Doch so sehr sich ihre Pro­fes­sio­nen auch unter­schie­den: Als Nicht­sess­haf­te wur­den sie alle über einen Kamm gescho­ren. Sie waren das fah­ren­de Volk, dem wegen eines feh­len­den fes­ten Wohn­sit­zes kei­ner­lei Bür­ger­rech­te zuge­spro­chen wur­de. Und dem das Stig­ma anhaf­te­te, zu Kri­mi­na­li­tät und Uneh­ren­haf­tig­keit zu neigen.

Ausstellungskatalog »Der Bend ist auf«, Seiten 66 und 67

In einem Zeit­al­ter, das den meis­ten Men­schen ohne­hin einen stän­di­gen Exis­tenz­kampf abver­lang­te, bil­de­ten die Fah­ren­den den Boden­satz der Gesell­schaft. Obwohl sich ihre Dienst­leis­tun­gen und Dar­bie­tun­gen auf den Märk­ten gro­ßer Beliebt­heit erfreu­ten, wur­den sie selbst im bes­ten Fall gedul­det, viel­fach jedoch nicht ein­mal das. Man­che Städ­te ver­bo­ten ihren Bür­gern, Mit­glie­der des fah­ren­den Vol­kes zu beher­ber­gen. Auch kirch­li­che Sakra­men­te durf­ten sie nicht emp­fan­gen. Der­art sozi­al aus­ge­grenzt, waren sie der Will­kür ihrer sess­haf­ten Mit­men­schen schutz­los ausgeliefert.

Allei­ne zu rei­sen war für sie gefähr­lich. Daher leg­ten sie mög­lichst alle Wege in grö­ße­ren Gemein­schaf­ten zurück. Zumeist han­del­te es sich bei die­sen grö­ße­ren Gemein­schaf­ten um eine oder meh­re­re Fami­li­en, die ein­an­der Rück­halt gaben. Um sich gegen­sei­tig bei­zu­ste­hen und zu stär­ken, schlos­sen sich zudem ver­schie­de­ne Berufs­grup­pen der Fah­ren­den – Spiel­leu­te, bei­spiels­wei­se, aber auch Kess­ler – im 14. und 15. Jahr­hun­dert zu zunft­ähn­li­chen Inter­es­sen­ver­tre­tun­gen zusam­men. Weil es beim Ver­tre­ten der Inter­es­sen aber regel­mä­ßig zu Gewalt­tä­tig­kei­ten kam, waren die­se soge­nann­ten Bün­de nicht von Bestand. Schon bald wur­den sie von der Obrig­keit aufgelöst.

Von Fahrenden zu Schaustellern

Ein sozia­ler Auf­stieg gelang im Lauf der fol­gen­den Jahr­hun­der­te nur bestimm­ten fah­ren­den Grup­pie­run­gen. Hand­wer­ker wur­den ab dem 16. Jahr­hun­dert zuneh­mend in die sess­haf­te Bevöl­ke­rung inte­griert. Glei­ches galt für Wan­der­händ­ler, die sich fort­an nur noch rein beruf­lich auf die Stra­ße bega­ben. Fah­ren­de mit weni­ger ange­se­he­nen Beru­fen wie Bürs­ten­bin­der oder Sche­ren­schlei­fer kamen nun zumin­dest pha­sen­wei­se in den Genuss eines fes­ten Wohn­sit­zes und gesell­schaft­li­cher Aner­ken­nung. Den Gauk­lern, Musi­kern, Artis­ten und ande­ren unter­hal­ten­den Bran­chen blieb die­ser Luxus noch gut zwei Jahr­hun­der­te lang verwehrt.

Am 1. Juni 1794 erließ Fried­rich Wil­helm II. das noch größ­ten­teils unter sei­nem Vater erar­bei­te­te »All­ge­mei­ne Land­recht für die preu­ßi­schen Staa­ten«, das heu­te als rechts­po­li­ti­scher Schritt in die Moder­ne erach­tet wird. Im Gel­tungs­be­reich des Land­rechts war es den Fah­ren­den in der Fol­ge erst­mals mög­lich, zeit­lich begrenz­te Kon­zes­sio­nen zu erhal­ten, um in einem exakt bestimm­ten Ter­ri­to­ri­um zu reisen.

Für die links­rhei­ni­schen Gebie­te – 1815 im Wie­ner Kon­gress dem preu­ßi­schen Reich zuge­schla­gen – galt das All­ge­mei­ne Land­recht nicht. Hier regel­te der fran­zö­si­sche »Code civil« von 1804 das Zivil­recht. Dem Grund­ge­dan­ken der Gleich­heit aller Men­schen vor dem Gesetz fol­gend, stell­te aber auch die­ser eine Ver­bes­se­rung der Lebens­um­stän­de des fah­ren­den Vol­kes dar.

Und noch etwas änder­te sich: In sei­nem 1822 erschie­ne­nen »Volks­tüm­li­chen Wör­ter­buch der deut­schen Spra­che mit Bezeich­nung der Aus­spra­che und Beto­nung für die Geschäfts- und Lese­welt« defi­nier­te der Ber­li­ner Lexi­ko­graph Theo­dor Hein­si­us einen Schau­stel­ler als jeman­den, der »etwas zur Schau stellt oder etwas anbie­tet, das belus­tigt oder unter­hält«. Es soll die ers­te Erwäh­nung die­ses Begriffs gewe­sen sein, der schon bald Teil des fes­ten Sprach­ge­brauchs wur­de. Aus den »Fah­ren­den« wur­den die »Schau­stel­ler«.

Der Beginn der modernen Schaustellerei

Ab der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts eröff­ne­te die zuneh­men­de Indus­tria­li­sie­rung die­sen neue Mög­lich­kei­ten der Mobi­li­tät. Dank der Eisen­bahn konn­ten die Schau­stel­ler mit ihren Geschäf­ten Märk­te in einem viel grö­ße­ren Gebiet errei­chen als zuvor. Jahr­märk­te in Bahn­hofs­nä­he lie­ßen selbst die wei­tes­ten Wege kurz wer­den. Die Ein­füh­rung des Wan­der­ge­wer­be­scheins ab 1860 gab dem Beschi­cken fer­ne­rer Märk­te die gewer­be­recht­li­che Legi­ti­ma­ti­on. Zudem wur­de der Trans­port der Hab­se­lig­kei­ten und des eige­nen Haus­stan­des etwas weni­ger müh­se­lig. Wohn­wa­gen lös­ten die zuvor oft­mals pro­vi­so­ri­schen fahr­ba­ren Unter­künf­te ab, was den Kom­fort des Lebens auf Ach­se erhöh­te. Wer tief genug in die Tasche griff, konn­te sogar in einem Luxus­wohn­wa­gen mit drei Zim­mern und Kachel­ofen reisen.

Auch inhalt­lich ver­än­der­te die Indus­tria­li­sie­rung das Schau­stel­ler­tum. Bis zu den mit ihr kom­men­den Neue­run­gen hat­ten die dar­ge­bo­te­nen Attrak­tio­nen vor allem aus Artis­tik, Musi­schem oder dem Vor­füh­ren außer­ge­wöhn­li­cher Talen­te bestan­den. Seil­tanz, Gesangs­ein­la­gen, Tier­dres­sur, Jon­gla­ge, Kunst­rei­ten, Zau­ber­tricks, bären­star­ke Män­ner, bär­ti­ge Frau­en: Das waren in der vor­in­dus­tri­el­len Zeit die Zuta­ten gewe­sen, die die Stim­mung beim Jahr­markts­pu­bli­kum zum Kochen brach­ten. Eine akti­ve Betei­li­gung der Zuschau­er am Ver­gnü­gen war hin­ge­gen größ­ten­teils nicht ange­dacht. Schau­en statt Sel­ber­ma­chen, lau­te­te die Devi­se. Schau­keln oder Schieß­stän­de, Karus­sel­le oder die Rus­si­sche Schau­kel als Vor­läu­fer des Rie­sen­ra­des waren sel­ten auf Märk­ten ver­tre­ten. Was Fahr­ge­schäf­te anging, soll­te sich das jetzt ändern.

Gera­de Karus­sel­le gewan­nen an Beliebt­heit, wäh­rend ihre Pro­duk­ti­on, aber eben auch ihr Trans­port weit weni­ger auf­wän­dig wur­den. In den Fer­ti­gungs­stät­ten der Karus­sell­in­dus­trie wur­den ab 1880 ste­tig neue Vari­an­ten ent­wi­ckelt. Bis dahin nicht gekann­te Spiel­ar­ten wie Berg- und Tal­bah­nen oder Flie­ger­ka­rus­sel­le brach­ten zusätz­li­ches Krib­beln auf die Jahr­märk­te. Betrie­ben wur­den sie zumeist von Hand­wer­kern wie Schlos­sern oder Schrei­nern, die mit Auf­bau und Unter­halt der Anla­gen umzu­ge­hen ver­stan­den. Aus der sta­tio­nä­ren Gesell­schaft stam­mend, ent­schie­den sie sich bewusst für den schau­stel­lern­den Lebens­ent­wurf und grün­de­ten so teils bis heu­te akti­ve Schausteller-Familiendynastien.

Ausstellungskatalog »Der Bend ist auf«, Seiten 68 und 69

Mit zuneh­men­der Attrak­ti­vi­tät der Fahr­ge­schäf­te ver­lo­ren der­weil zumin­dest auf Volks­fes­ten die Dar­bie­tun­gen jener an Bedeu­tung, die vor die­sem Wan­del haupt­säch­lich unter dem Begriff »Schau­stel­ler« sub­sum­miert wor­den waren. In Wan­der­zir­kus­sen, Mena­ge­ri­en und Völ­ker­schau­en blieb ihre Popu­la­ri­tät bis zur Mit­te des 20. Jahr­hun­derts jedoch zunächst unge­bro­chen. Für Zir­kus­ar­tis­ten gilt das bis zum heu­ti­gen Tag.

Allen Betrei­bern und Anhän­gern der Fahr­ge­schäf­te brach­te das anbre­chen­de 20. Jahr­hun­dert wei­te­re atem­be­rau­ben­de Attrak­tio­nen. Die enor­men Bau­ten trans­por­ta­bler Ach­ter­bah­nen waren ab 1909 schon allein optisch eine Berei­che­rung für jeden Fest­platz. 1926 schwapp­te der Auto­scoo­ter aus den Ver­ei­nig­ten Staa­ten über den Atlan­tik. Fünf Jah­re spä­ter ver­brei­te­ten ers­te Geis­ter­bah­nen Angst und Schre­cken unter den Besu­chern. Gera­de die­se bei­den Fahr­ge­schäf­te haben auch fast hun­dert Jah­re spä­ter noch einen fes­ten Platz in den Pla­nun­gen der Volksfestorganisatoren.

Junge Männer zum Mitreisen gesucht

Die­se zahl­rei­chen und mas­si­ven Ver­än­de­run­gen inner­halb ver­gleichs­wei­se kur­zer Zeit gin­gen nicht spur­los an der Lebens­wirk­lich­keit der Schau­stel­ler vor­über. Vor­mals eher klei­ne Betrie­be ent­wi­ckel­ten sich zu mit­tel­stän­di­schen Fami­li­en­un­ter­neh­men. Allei­ne zur Anschaf­fung neu­er Fahr­ge­schäf­te muss­ten die­se enor­me finan­zi­el­le Mit­tel auf­brin­gen. Die Not­wen­dig­keit, die­se teu­ren Gerät­schaf­ten in den volks­fest­frei­en Win­ter­mo­na­ten zu lagern und bei Bedarf zu repa­rie­ren, führ­te zur Grün­dung betriebs­ei­ge­ner Gelän­de mit Hal­len zur Unter­brin­gung, mit Werk­stät­ten und einer Wohn­un­ter­kunft für die Zeit des Jah­res, in der es kei­ne Jahr­märk­te zu beschi­cken gab.

Viel­fach brauch­te es zudem Unter­künf­te für Per­so­nal. Auch noch so gro­ße Fami­li­en kamen bei der Mam­mut­auf­ga­be, rie­si­ge Fahr­ge­schäf­te zu trans­por­tie­ren, auf­zu­bau­en und zu betrei­ben, an ihre Gren­zen. Also such­te man jun­ge Män­ner zum Mit­rei­sen und fand sie vie­ler­orts. Schau­stel­ler­fa­mi­li­en wur­den so zum sozia­len Auf­fang­be­cken für unge­lern­te Hilfs­kräf­te. Kost und Logis­Aus­stel­lungs­ka­ta­log »Der Bend ist auf«, Sei­ten 64 und 65 waren für die­se frei und bei Tisch gab es kei­ne Unter­schie­de. Alle pack­ten gleich hart mit an, alle beka­men die Tel­ler gleich voll. Selbst­ver­ständ­lich saßen die hel­fen­den Hän­de mit am Fami­li­en­tisch. Platz war aus­rei­chend vor­han­den. Immer wei­ter­ent­wi­ckel­te Wohn­wa­gen mit aus­zieh­ba­ren Erkern und sepa­ra­ten Küchen­wa­gen erreich­ten im Lauf der fol­gen­den Jahr­zehn­te die räum­li­chen und preis­li­chen Dimen­sio­nen von Einfamilienhäusern.

Auch die ton­nen­schwe­ren Stahl­kon­struk­tio­nen der Fahr­ge­schäf­te wur­den gemüt­lich durch die Lan­de gefah­ren. Gemüt­lich, was das Tem­po betrifft. Zug­ma­schi­nen wie Han­o­mags oder Lanz Bull­dogs waren Mus­kel­prot­ze auf Rädern, die bei Wind und Wet­ter treu ihren Dienst taten. Ging es auf Rei­sen ein­mal berg­auf, muss­te es aber eben auch schon ein­mal für län­ge­re Zeit Schritt­tem­po sein. Geduld war da eben­so gefragt, wie über­durch­schnitt­li­ches Pla­nungs­ta­lent. Nur wer das zu erwar­ten­de Stre­cken­pro­fil kann­te, sämt­li­che poten­ti­el­le Pro­ble­me mit­dach­te und all dies beden­kend recht­zei­tig los­fuhr, kam pünkt­lich am nächs­ten Ver­an­stal­tungs­ort an.

Konkurrenz und Zusammenhalt

Seit die­sen Tagen ab der Mit­te des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts ist ver­gleichs­wei­se wenig Zeit ver­gan­gen. Doch gesell­schaft­li­che Struk­tu­ren haben sich teils rasant ver­scho­ben, wäh­rend tech­ni­sche Ent­wick­lun­gen immer schnel­ler vor­an­ge­schrit­ten sind: In der Gegen­wart haben sich daher vie­le die­ser logis­ti­schen Aspek­te noch ein­mal maß­geb­lich ver­än­dert. Jun­ge, mit­rei­se­wil­li­ge Män­ner aus deut­schen Lan­den sind heut­zu­ta­ge schwer bis gar nicht mehr zu fin­den. Statt­des­sen kom­men die Hel­fer mitt­ler­wei­le zumeist aus Ost­eu­ro­pa. Theo­re­tisch stün­de auch ihnen ein Platz am Tisch ihrer Arbeit­ge­ber bereit. Doch der Groß­teil von ihnen sucht auf Jahr­märk­ten lie­ber den Kon­takt zu Lands­leu­ten, die bei ande­ren Schau­stel­lern arbei­ten. Gemein­sam berei­ten sie dann hei­mat­li­che Gerich­te zu und erzäh­len von zu Hau­se, um dem Heim­weh Herr zu werden.

Die kom­for­ta­blen Wohn­wa­gen gehö­ren nach wie vor zum Schau­stel­ler­le­ben dazu. Auch heut­zu­ta­ge sind sie auf der Höhe der Zeit aus­ge­stat­tet, ver­fü­gen über alles, was das Leben leich­ter macht. Schließ­lich sind sie für min­des­tens zehn Mona­te das Zuhau­se ihrer Besit­zer. Von man­chen Schau­stel­lern wird berich­tet, dass sie auch neben der Sai­son daheim im Wohn­wa­gen schla­fen, weil er ihnen mehr Gemüt­lich­keit bie­tet als jedes Haus.

Ausstellungskatalog »Der Bend ist auf«, Seiten 72 und 73

Anders als Wohn­wa­gen sieht man Han­o­mags und Lanz Bull­dogs allen­falls noch aus nost­al­gi­schen Grün­den auf Jahr­märk­ten. Längst wur­den sie durch Sat­tel­schlep­per ersetzt, die ein Karus­sell in der Zeit von Aachen zum Mün­che­ner Okto­ber­fest brin­gen, die es frü­her brauch­te, um eine Kir­mes in der Vorei­fel zu errei­chen. Auch für den Auf- und Abbau der Fahr­ge­schäf­te müs­sen nicht mehr andert­halb Tage kal­ku­liert wer­den wie noch vor weni­gen Jahr­zehn­ten. Hydrau­lik- und com­pu­ter­ge­stütz­te Tech­nik lässt man­che vor­mals umständ­li­chen Hand­grif­fe jetzt auto­ma­tisch auf Knopf­druck gesche­hen. Nach weni­gen Stun­den ist so etwa ein hoch­mo­der­ner Auto­scoo­ter ein­satz­be­reit. Eben­so schnell ist er nach dem Ende des Volks­fests wie­der verstaut.

Die dadurch ein­ge­spar­ten Stun­den wer­den aber kei­nes­wegs zu Frei­zeit. Auch ohne aus­ufern­de Ein­sät­ze am Schrau­ben­schlüs­sel bleibt noch genug zu tun. Vor allem wäh­rend lau­fen­der Volks­fes­te müs­sen weni­ge Stun­den Schlaf rei­chen. Der Rest des Tages und der Nacht gehört der Arbeit. Wäh­rend der Öff­nungs­zei­ten muss das Geschäft betreut und betrie­ben wer­den. Danach geht es ans Auf­räu­men und an die Buch­hal­tung. Die Nacht­ru­he fällt dann zumeist auf genau die Stun­den, in denen der Fest­platz gerei­nigt wird. Der dabei ent­ste­hen­de Lärm ist der Erho­lung nicht unbe­dingt zuträg­lich. Kommt alles um einen her­um dann end­lich zur Ruhe, ist die Nacht auch schon wie­der vor­bei und alles beginnt von vorn. Bis zu 30 Wochen­en­den pro Jahr leben Schau­stel­ler in die­sem kräf­te­zeh­ren­den Rhyth­mus. Die Tage dazwi­schen sind mit Fahr­ten gefüllt, mit War­tungs­ar­bei­ten an den Gerä­ten, mit buch­hal­te­ri­schen Auf­ga­ben oder der Erstel­lung von Bewer­bun­gen auf kom­men­de Stellplätze.

Die­se Plät­ze sind grund­sätz­lich nie­man­dem garan­tiert. Dass man im einen Jahr Teil eines Volks­fests war, bedeu­tet nicht, dass man es im nächs­ten Jahr auto­ma­tisch wie­der sein wird. Die Kon­kur­renz schläft nicht. Daher gilt es, sich und das eige­ne Geschäft in eigens dafür erstell­ten Info­bro­schü­ren und Bewer­bungs­map­pen mög­lichst gut zu ver­kau­fen. Dane­ben lohnt es sich immer, ein Auge auf die neu­es­ten Trends auf dem Fahr­ge­schäft­s­ek­tor zu hal­ten. Even­tu­ell muss ja ein Upgrade her, um auch im kom­men­den Jahr aus­rei­chend Stell­plät­ze zu ergattern.

In einer Zeit, in der die klei­nen Dorf­kir­mes zuneh­mend an Zug­kraft und somit an Ertrag ver­liert, gilt die Kon­zen­tra­ti­on den gro­ßen, über­re­gio­nal bekann­ten und daher her­vor­ra­gend besuch­ten Volks­fes­ten. Deren lukra­ti­ve Plät­ze sind rar gesät und ent­spre­chend heiß begehrt. Bei aller Kon­kur­renz um die­se Fleisch­töp­fe zeich­net sich die Schau­stel­ler­bran­che jedoch nach wie vor durch gro­ßen Zusam­men­halt unter­ein­an­der aus. Mit dem 1950 gegrün­de­ten Deut­schen Schau­stel­ler­bund und dem zwei Jah­re jün­ge­ren Bun­des­ver­band Deut­scher Schau­stel­ler und Markt­kauf­leu­te gibt es gleich zwei gro­ße Ver­bän­de, die sich der För­de­rung von Volks­fes­ten und Jahr­märk­ten einer­seits und der Siche­rung und Ver­bes­se­rung der wirt­schaft­li­chen und gesetz­li­chen Situa­ti­on ihrer Mit­glie­der ande­rer­seits ver­schrie­ben haben.

In die Wiege gelegt

Den größ­ten Rück­halt aber – und das hat sich in all der Zeit nicht ver­än­dert – fin­den Schau­stel­ler in der eige­nen Fami­lie. Sie ist der Kern allen Tuns und Seins. Tag­täg­lich lebt man auf engs­tem Raum zusam­men. Die stol­ze Erwäh­nung, in der wie­viel­ten Gene­ra­ti­on man das Fami­li­en­un­ter­neh­men bereits füh­re, gehört bei der Vor­stel­lung der eige­nen Per­son unbe­dingt dazu. Die Tra­di­ti­on ihrer Vor­fah­ren fort­füh­rend, ist das Schau­stel­lern für jeden von ihnen weit mehr als nur ein Beruf. Es ist eine Lebens­ein­stel­lung, die ihnen im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes in die Wie­ge gelegt wur­de. Und die sie wie­der­um den eige­nen Kin­dern in die Wie­ge legen.

Im gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Kon­text stel­len Schau­stel­ler eine sehr in sich geschlos­se­ne Grup­pe dar. Für Außen­ste­hen­de ist es zumeist schwer, sich in die­se Art des Mit­ein­an­ders hin­ein­zu­den­ken, geschwei­ge denn hin­ein­zu­le­ben. Part­ner­schaf­ten zwi­schen Schau­stel­le­rin­nen oder Schau­stel­lern mit Men­schen aus ande­ren Gesell­schafts­grup­pen sind nicht unmög­lich, wer­den aber ver­gleichs­wei­se sel­ten ein­ge­gan­gen. Zum einen ist das Ken­nen­ler­nen rela­tiv schwie­rig, da es kaum Berüh­rungs­punk­te jen­seits des Kas­sen­häus­chens gibt. Zum ande­ren erweist sich im part­ner­schaft­li­chen All­tag immer wie­der, dass der Part­ner oder die Part­ne­rin doch nicht für ein Leben nach Art der Schau­stel­ler gemacht ist.

Ausstellungskatalog »Der Bend ist auf«, Seiten 76 und 77

Part­ner­schaf­ten und Ehen unter Schau­stel­lern haben da deut­lich höhe­re Erfolgs­aus­sich­ten. Man weiß im Grun­de schon vor­her, was man anein­an­der hat und was einen im gemein­sa­men Leben erwar­tet: die Arbeit im elter­li­chen oder schwie­ger­el­ter­li­chen Geschäft, spä­ter even­tu­ell des­sen Über­nah­me. Nur ein ver­schwin­dend gerin­ger Anteil des Nach­wuch­ses ent­schei­det sich für ein Leben außer­halb des Schaustellergewerbes.

Schon in frü­hen Jah­ren ler­nen Kin­der und Jugend­li­che dar­um die wich­tigs­ten Hand­grif­fe anwen­dungs­be­zo­gen unmit­tel­bar im All­tag. Hand­werk­li­ches Grund­wis­sen gehört eben­so zu den ver­mit­tel­ten Inhal­ten, wie kauf­män­ni­sche Basics oder das Fah­ren der fami­li­en­ei­ge­nen Trans­port­fahr­zeu­ge. Bis ins 19. Jahr­hun­dert hin­ein war das alles, was gebraucht wur­de. For­ma­le schu­li­sche Bil­dung wur­de meist grob ver­nach­läs­sigt. Wenn Schau­stel­ler­kin­der über­haupt eine Schu­le besuch­ten, blie­ben sie am Ende meist ohne Abschluss. Zu Hau­se war viel zu tun und die beruf­li­che Zukunft war im elter­li­chen Betrieb ohne­hin gesichert.

Nicht für die Schule, fürs Leben

Etwa ab 1900 änder­te sich die Sicht der Fami­li­en­ober­häup­ter auf den schu­li­schen Wer­de­gang der Kin­der. Wäh­rend der Sai­son besuch­ten die jün­ge­ren unter ihnen nun an jedem Ver­an­stal­tungs­ort für eini­ge Tage die jewei­li­ge Volks­schu­le. In einer Klad­de bestä­tig­te das Lehr­per­so­nal den Besuch. Ein Wech­sel an wei­ter­füh­ren­de Schu­len oder ein regel­mä­ßi­ger Schul­be­such über das Teen­ager­al­ter hin­aus war aller­dings eher nicht vor­ge­se­hen. Lesen, Schrei­ben und Rech­nen reich­ten nach dama­li­ger Auf­fas­sung als Grund­la­ge. Danach wur­den die Kin­der im elter­li­chen Betrieb gebraucht.

Auch die­ser Ansatz wur­de im Lauf der kom­men­den Jahr­zehn­te mehr­fach über­dacht und ange­passt. Ab den 1960er-Jah­ren ent­schie­den sich finan­zi­ell gut auf­ge­stell­te Eltern, ihre Kin­der auf Inter­na­te zu ent­sen­den, damit sie sich dort voll und ganz auf die schu­li­sche Aus­bil­dung kon­zen­trie­ren konn­ten. Bis dahin im Wohn­wa­gen und All­tag täg­lich bei­ein­an­der, führ­te ein Inter­nats­auf­ent­halt viel­fach zu hef­ti­gem Tren­nungs­schmerz auf bei­den Sei­ten. Bei wei­tem nicht alle Kin­der und Jugend­li­che hiel­ten die­sen Schmerz aus. Die meis­ten bra­chen den Schul­be­such vor­zei­tig ab.

Gän­gigs­te Pra­xis ist und bleibt jedoch der Schul­be­such auf Rei­sen. Ein von der Kul­tus­mi­nis­ter­kon­fe­renz ein­ge­führ­tes Schul­ta­ge­buch hat längst die an jeder Schu­le aus­zu­fül­len­de Klad­de ersetzt. Die­ses Tage­buch beschei­nigt nicht nur den Besuch, es umreißt auch das ver­mit­tel­te Wis­sen. Der hei­mat­li­chen Stamm­schu­le ist es so mög­lich, den Wis­sens­stand zu ermit­teln, Lücken zu schlie­ßen und aus dem Gesamt­bild die Ver­set­zungs­fä­hig­keit zu ermit­teln. Seit 1998 gibt es im Rah­men des Pro­jekts »Schu­le unter­wegs« zudem soge­nann­te Bereichs­leh­rer, die die schul­pflich­ti­gen Schau­stel­ler­kin­der auf den Volks­fest­plät­zen besu­chen, um bei Haus­auf­ga­ben zu hel­fen oder Nach­hil­fe­un­ter­richt zu erteilen.

Der The­men­be­reich »Schau­stel­ler­kin­der und Schu­le« ist und bleibt wei­ter­hin in Bewe­gung. Gera­de die bei­den gro­ßen Schau­stel­ler­ver­bän­de arbei­ten schon seit ihrer Grün­dung ste­tig dar­an, die Schul­si­tua­ti­on für Schau­stel­ler­kin­der zu ver­bes­sern. So stell­te das Bil­dungs­werk Deut­scher Schau­stel­ler Ende der 2010er-Jah­re erst­mals ein rei­sen­des Schul­mo­bil vor. Seit Sep­tem­ber 2021 steht das digi­ta­le Bil­dungs­an­ge­bot Dig­Lu (Digi­ta­les Ler­nen unter­wegs) online zur Ver­fü­gung. Mit des­sen Hil­fe soll eine ver­gleich­ba­re schu­li­sche Bil­dung aller rei­sen­den Kin­der in den ein­zel­nen Bun­des­län­dern sicher­ge­stellt werden.

Auf die­se Art sol­len sie alle best­mög­lich auf die Her­aus­for­de­run­gen unse­rer Zeit vor­be­rei­tet wer­den, wäh­rend sie auf die Schul­tern ihrer Vor­fah­ren stei­gen und deren lan­ge Tra­di­ti­on fort­füh­ren, indem sie Jahr­märk­te wie den Öcher Bend in fremd­ar­tig ver­lo­cken­de Land­schaf­ten verwandeln.

Ausstellungskatalog »Der Bend ist auf«, Titel

Die­ser Arti­kel wur­de ursprüng­lich im Kata­log zur Aus­stel­lung »Der Bend ist auf« im Aache­ner Stadt­mu­se­um Cent­re Char­le­ma­gne ver­öf­fent­licht. Die Aus­stel­lung bot zwi­schen dem 3.6. und 20.8.2023 einen umfas­sen­den Blick auf das Schau­stel­ler­le­ben im All­ge­mei­nen und den Öcher Bend im Spe­zi­el­len. Nach ihrem Ende ist es mir jetzt erlaubt, den Text auch hier zu veröffentlichen.

Bei der Recher­che zu die­sem Text waren mir alt­ein­ge­ses­se­ne Schau­stel­ler­fa­mi­li­en aus dem Aache­ner Raum, bei­de gro­ßen Schau­stel­ler-Ver­bän­de und die mit enor­mem Herz­blut betrie­be­ne Web­site »Kul­tur­gut Volks­fest« eine gro­ße Hil­fe. Herz­li­chen Dank dafür.

Hinterlasse einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Benötigte Felder sind mit einem * markiert …