Sie sind Herz und Seele eines jeden Volksfestes, sind Geschäftsleute, die mit dem Schraubenschlüssel ebenso versiert umgehen wie mit dem Taschenrechner. Sie arbeiten mit hochspeziellem Know-How an ihren Geräten und zeigen sich gleichzeitig enorm flexibel und wandlungsfähig. Sie glauben an die Kraft der Gemeinschaft, sind Familienmenschen und Lebenskünstler. Sie sind Schausteller. Und das meist schon seit Generationen. Ein Blick auf die faszinierende Gegenwart und die bewegte Vergangenheit dieser sehr speziellen Branche.
Zweimal pro Jahr wird an Aachens Süsterfeldstraße für etwa zwei Wochen eine fremdartige und gleichzeitig verlockende, künstliche Landschaft errichtet. Immer rund um Ostern und im August lockt der Öcher Bend mit atemberaubenden Fahrgeschäften und wilden Riesenschaukeln, mit Autoscootern und Kinderkarussellen, mit Los- und Schießbuden. Gerne folgen die Menschen dem Lockruf.
Stundenweise entfliehen sie ihrem Alltag, hinein in eine Welt, die nach gebrannten Mandeln und Zuckerwatte riecht – derweil eine nie endende Kakophonie aus Klingeln, Tuten, Rumsen, Knallen, Rattern, Scheppern, Bimmeln, Klirren, Lachen, Kreischen, »Gewinne, Gewinne, Gewinne!« und Schlagermusik dem faszinierenden Durcheinander die perfekte Geräuschkulisse bietet.
Für Besucherinnen und Besucher währt die Begegnung mit dieser Welt immer nur wenige Tage. Es gibt aber Leute, die in dieser Welt leben. Mehr noch: die diese Welt erschaffen. Es sind Schaustellerinnen und Schausteller, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht haben, den Menschen außergewöhnliche Erlebnisse quasi vor ihren Haustüren zu ermöglichen. Für diese Aufgabe sind sie gut zehn Monate im Jahr unterwegs. Ein Leben voller Freiheit und Abenteuer schreiben ihnen Romantiker nicht völlig zu Unrecht zu. Mindestens zu gleichen Teilen ist es aber auch ein Leben voller harter Arbeit. Und das war es schon immer.
Das fahrende Volk
Die Ursprünge des heutigen Schaustellertums lassen sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts verorten. Eng hängen diese Anfänge mit der damals Fahrt aufnehmenden Industrialisierung zusammen. Wer noch weiter zurückblickt, findet aber auch schon im frühen Mittelalter kulturelle Wurzeln derjenigen, die heutzutage das Fundament eines jeden Volksfests und jeder Kirmes bilden.
Die Rede ist von den sogenannten Fahrenden, die in vormodernen Tagen von Jahrmarkt zu Jahrmarkt zogen. Wandernde Berufsleute wie Musikanten, Gaukler, Artisten oder Quacksalber waren ebenso unter ihnen wie umherreisende Handwerker und Kaufleute. Die einen boten ihre Waren und Dienste auf den Märkten an, die anderen bestritten ihren Lebensunterhalt mit unterhaltsamen Darbietungen und Kunststücken. Wieder andere kümmerten sich um kleinere und größere Wehwehchen oder verkauften Salben und Tinkturen. Doch so sehr sich ihre Professionen auch unterschieden: Als Nichtsesshafte wurden sie alle über einen Kamm geschoren. Sie waren das fahrende Volk, dem wegen eines fehlenden festen Wohnsitzes keinerlei Bürgerrechte zugesprochen wurde. Und dem das Stigma anhaftete, zu Kriminalität und Unehrenhaftigkeit zu neigen.
In einem Zeitalter, das den meisten Menschen ohnehin einen ständigen Existenzkampf abverlangte, bildeten die Fahrenden den Bodensatz der Gesellschaft. Obwohl sich ihre Dienstleistungen und Darbietungen auf den Märkten großer Beliebtheit erfreuten, wurden sie selbst im besten Fall geduldet, vielfach jedoch nicht einmal das. Manche Städte verboten ihren Bürgern, Mitglieder des fahrenden Volkes zu beherbergen. Auch kirchliche Sakramente durften sie nicht empfangen. Derart sozial ausgegrenzt, waren sie der Willkür ihrer sesshaften Mitmenschen schutzlos ausgeliefert.
Alleine zu reisen war für sie gefährlich. Daher legten sie möglichst alle Wege in größeren Gemeinschaften zurück. Zumeist handelte es sich bei diesen größeren Gemeinschaften um eine oder mehrere Familien, die einander Rückhalt gaben. Um sich gegenseitig beizustehen und zu stärken, schlossen sich zudem verschiedene Berufsgruppen der Fahrenden – Spielleute, beispielsweise, aber auch Kessler – im 14. und 15. Jahrhundert zu zunftähnlichen Interessenvertretungen zusammen. Weil es beim Vertreten der Interessen aber regelmäßig zu Gewalttätigkeiten kam, waren diese sogenannten Bünde nicht von Bestand. Schon bald wurden sie von der Obrigkeit aufgelöst.
Von Fahrenden zu Schaustellern
Ein sozialer Aufstieg gelang im Lauf der folgenden Jahrhunderte nur bestimmten fahrenden Gruppierungen. Handwerker wurden ab dem 16. Jahrhundert zunehmend in die sesshafte Bevölkerung integriert. Gleiches galt für Wanderhändler, die sich fortan nur noch rein beruflich auf die Straße begaben. Fahrende mit weniger angesehenen Berufen wie Bürstenbinder oder Scherenschleifer kamen nun zumindest phasenweise in den Genuss eines festen Wohnsitzes und gesellschaftlicher Anerkennung. Den Gauklern, Musikern, Artisten und anderen unterhaltenden Branchen blieb dieser Luxus noch gut zwei Jahrhunderte lang verwehrt.
Am 1. Juni 1794 erließ Friedrich Wilhelm II. das noch größtenteils unter seinem Vater erarbeitete »Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten«, das heute als rechtspolitischer Schritt in die Moderne erachtet wird. Im Geltungsbereich des Landrechts war es den Fahrenden in der Folge erstmals möglich, zeitlich begrenzte Konzessionen zu erhalten, um in einem exakt bestimmten Territorium zu reisen.
Für die linksrheinischen Gebiete – 1815 im Wiener Kongress dem preußischen Reich zugeschlagen – galt das Allgemeine Landrecht nicht. Hier regelte der französische »Code civil« von 1804 das Zivilrecht. Dem Grundgedanken der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz folgend, stellte aber auch dieser eine Verbesserung der Lebensumstände des fahrenden Volkes dar.
Und noch etwas änderte sich: In seinem 1822 erschienenen »Volkstümlichen Wörterbuch der deutschen Sprache mit Bezeichnung der Aussprache und Betonung für die Geschäfts- und Lesewelt« definierte der Berliner Lexikograph Theodor Heinsius einen Schausteller als jemanden, der »etwas zur Schau stellt oder etwas anbietet, das belustigt oder unterhält«. Es soll die erste Erwähnung dieses Begriffs gewesen sein, der schon bald Teil des festen Sprachgebrauchs wurde. Aus den »Fahrenden« wurden die »Schausteller«.
Der Beginn der modernen Schaustellerei
Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eröffnete die zunehmende Industrialisierung diesen neue Möglichkeiten der Mobilität. Dank der Eisenbahn konnten die Schausteller mit ihren Geschäften Märkte in einem viel größeren Gebiet erreichen als zuvor. Jahrmärkte in Bahnhofsnähe ließen selbst die weitesten Wege kurz werden. Die Einführung des Wandergewerbescheins ab 1860 gab dem Beschicken fernerer Märkte die gewerberechtliche Legitimation. Zudem wurde der Transport der Habseligkeiten und des eigenen Hausstandes etwas weniger mühselig. Wohnwagen lösten die zuvor oftmals provisorischen fahrbaren Unterkünfte ab, was den Komfort des Lebens auf Achse erhöhte. Wer tief genug in die Tasche griff, konnte sogar in einem Luxuswohnwagen mit drei Zimmern und Kachelofen reisen.
Auch inhaltlich veränderte die Industrialisierung das Schaustellertum. Bis zu den mit ihr kommenden Neuerungen hatten die dargebotenen Attraktionen vor allem aus Artistik, Musischem oder dem Vorführen außergewöhnlicher Talente bestanden. Seiltanz, Gesangseinlagen, Tierdressur, Jonglage, Kunstreiten, Zaubertricks, bärenstarke Männer, bärtige Frauen: Das waren in der vorindustriellen Zeit die Zutaten gewesen, die die Stimmung beim Jahrmarktspublikum zum Kochen brachten. Eine aktive Beteiligung der Zuschauer am Vergnügen war hingegen größtenteils nicht angedacht. Schauen statt Selbermachen, lautete die Devise. Schaukeln oder Schießstände, Karusselle oder die Russische Schaukel als Vorläufer des Riesenrades waren selten auf Märkten vertreten. Was Fahrgeschäfte anging, sollte sich das jetzt ändern.
Gerade Karusselle gewannen an Beliebtheit, während ihre Produktion, aber eben auch ihr Transport weit weniger aufwändig wurden. In den Fertigungsstätten der Karussellindustrie wurden ab 1880 stetig neue Varianten entwickelt. Bis dahin nicht gekannte Spielarten wie Berg- und Talbahnen oder Fliegerkarusselle brachten zusätzliches Kribbeln auf die Jahrmärkte. Betrieben wurden sie zumeist von Handwerkern wie Schlossern oder Schreinern, die mit Aufbau und Unterhalt der Anlagen umzugehen verstanden. Aus der stationären Gesellschaft stammend, entschieden sie sich bewusst für den schaustellernden Lebensentwurf und gründeten so teils bis heute aktive Schausteller-Familiendynastien.
Mit zunehmender Attraktivität der Fahrgeschäfte verloren derweil zumindest auf Volksfesten die Darbietungen jener an Bedeutung, die vor diesem Wandel hauptsächlich unter dem Begriff »Schausteller« subsummiert worden waren. In Wanderzirkussen, Menagerien und Völkerschauen blieb ihre Popularität bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts jedoch zunächst ungebrochen. Für Zirkusartisten gilt das bis zum heutigen Tag.
Allen Betreibern und Anhängern der Fahrgeschäfte brachte das anbrechende 20. Jahrhundert weitere atemberaubende Attraktionen. Die enormen Bauten transportabler Achterbahnen waren ab 1909 schon allein optisch eine Bereicherung für jeden Festplatz. 1926 schwappte der Autoscooter aus den Vereinigten Staaten über den Atlantik. Fünf Jahre später verbreiteten erste Geisterbahnen Angst und Schrecken unter den Besuchern. Gerade diese beiden Fahrgeschäfte haben auch fast hundert Jahre später noch einen festen Platz in den Planungen der Volksfestorganisatoren.
Junge Männer zum Mitreisen gesucht
Diese zahlreichen und massiven Veränderungen innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit gingen nicht spurlos an der Lebenswirklichkeit der Schausteller vorüber. Vormals eher kleine Betriebe entwickelten sich zu mittelständischen Familienunternehmen. Alleine zur Anschaffung neuer Fahrgeschäfte mussten diese enorme finanzielle Mittel aufbringen. Die Notwendigkeit, diese teuren Gerätschaften in den volksfestfreien Wintermonaten zu lagern und bei Bedarf zu reparieren, führte zur Gründung betriebseigener Gelände mit Hallen zur Unterbringung, mit Werkstätten und einer Wohnunterkunft für die Zeit des Jahres, in der es keine Jahrmärkte zu beschicken gab.
Vielfach brauchte es zudem Unterkünfte für Personal. Auch noch so große Familien kamen bei der Mammutaufgabe, riesige Fahrgeschäfte zu transportieren, aufzubauen und zu betreiben, an ihre Grenzen. Also suchte man junge Männer zum Mitreisen und fand sie vielerorts. Schaustellerfamilien wurden so zum sozialen Auffangbecken für ungelernte Hilfskräfte. Kost und LogisAusstellungskatalog »Der Bend ist auf«, Seiten 64 und 65 waren für diese frei und bei Tisch gab es keine Unterschiede. Alle packten gleich hart mit an, alle bekamen die Teller gleich voll. Selbstverständlich saßen die helfenden Hände mit am Familientisch. Platz war ausreichend vorhanden. Immer weiterentwickelte Wohnwagen mit ausziehbaren Erkern und separaten Küchenwagen erreichten im Lauf der folgenden Jahrzehnte die räumlichen und preislichen Dimensionen von Einfamilienhäusern.
Auch die tonnenschweren Stahlkonstruktionen der Fahrgeschäfte wurden gemütlich durch die Lande gefahren. Gemütlich, was das Tempo betrifft. Zugmaschinen wie Hanomags oder Lanz Bulldogs waren Muskelprotze auf Rädern, die bei Wind und Wetter treu ihren Dienst taten. Ging es auf Reisen einmal bergauf, musste es aber eben auch schon einmal für längere Zeit Schritttempo sein. Geduld war da ebenso gefragt, wie überdurchschnittliches Planungstalent. Nur wer das zu erwartende Streckenprofil kannte, sämtliche potentielle Probleme mitdachte und all dies bedenkend rechtzeitig losfuhr, kam pünktlich am nächsten Veranstaltungsort an.
Konkurrenz und Zusammenhalt
Seit diesen Tagen ab der Mitte des vergangenen Jahrhunderts ist vergleichsweise wenig Zeit vergangen. Doch gesellschaftliche Strukturen haben sich teils rasant verschoben, während technische Entwicklungen immer schneller vorangeschritten sind: In der Gegenwart haben sich daher viele dieser logistischen Aspekte noch einmal maßgeblich verändert. Junge, mitreisewillige Männer aus deutschen Landen sind heutzutage schwer bis gar nicht mehr zu finden. Stattdessen kommen die Helfer mittlerweile zumeist aus Osteuropa. Theoretisch stünde auch ihnen ein Platz am Tisch ihrer Arbeitgeber bereit. Doch der Großteil von ihnen sucht auf Jahrmärkten lieber den Kontakt zu Landsleuten, die bei anderen Schaustellern arbeiten. Gemeinsam bereiten sie dann heimatliche Gerichte zu und erzählen von zu Hause, um dem Heimweh Herr zu werden.
Die komfortablen Wohnwagen gehören nach wie vor zum Schaustellerleben dazu. Auch heutzutage sind sie auf der Höhe der Zeit ausgestattet, verfügen über alles, was das Leben leichter macht. Schließlich sind sie für mindestens zehn Monate das Zuhause ihrer Besitzer. Von manchen Schaustellern wird berichtet, dass sie auch neben der Saison daheim im Wohnwagen schlafen, weil er ihnen mehr Gemütlichkeit bietet als jedes Haus.
Anders als Wohnwagen sieht man Hanomags und Lanz Bulldogs allenfalls noch aus nostalgischen Gründen auf Jahrmärkten. Längst wurden sie durch Sattelschlepper ersetzt, die ein Karussell in der Zeit von Aachen zum Münchener Oktoberfest bringen, die es früher brauchte, um eine Kirmes in der Voreifel zu erreichen. Auch für den Auf- und Abbau der Fahrgeschäfte müssen nicht mehr anderthalb Tage kalkuliert werden wie noch vor wenigen Jahrzehnten. Hydraulik- und computergestützte Technik lässt manche vormals umständlichen Handgriffe jetzt automatisch auf Knopfdruck geschehen. Nach wenigen Stunden ist so etwa ein hochmoderner Autoscooter einsatzbereit. Ebenso schnell ist er nach dem Ende des Volksfests wieder verstaut.
Die dadurch eingesparten Stunden werden aber keineswegs zu Freizeit. Auch ohne ausufernde Einsätze am Schraubenschlüssel bleibt noch genug zu tun. Vor allem während laufender Volksfeste müssen wenige Stunden Schlaf reichen. Der Rest des Tages und der Nacht gehört der Arbeit. Während der Öffnungszeiten muss das Geschäft betreut und betrieben werden. Danach geht es ans Aufräumen und an die Buchhaltung. Die Nachtruhe fällt dann zumeist auf genau die Stunden, in denen der Festplatz gereinigt wird. Der dabei entstehende Lärm ist der Erholung nicht unbedingt zuträglich. Kommt alles um einen herum dann endlich zur Ruhe, ist die Nacht auch schon wieder vorbei und alles beginnt von vorn. Bis zu 30 Wochenenden pro Jahr leben Schausteller in diesem kräftezehrenden Rhythmus. Die Tage dazwischen sind mit Fahrten gefüllt, mit Wartungsarbeiten an den Geräten, mit buchhalterischen Aufgaben oder der Erstellung von Bewerbungen auf kommende Stellplätze.
Diese Plätze sind grundsätzlich niemandem garantiert. Dass man im einen Jahr Teil eines Volksfests war, bedeutet nicht, dass man es im nächsten Jahr automatisch wieder sein wird. Die Konkurrenz schläft nicht. Daher gilt es, sich und das eigene Geschäft in eigens dafür erstellten Infobroschüren und Bewerbungsmappen möglichst gut zu verkaufen. Daneben lohnt es sich immer, ein Auge auf die neuesten Trends auf dem Fahrgeschäftsektor zu halten. Eventuell muss ja ein Upgrade her, um auch im kommenden Jahr ausreichend Stellplätze zu ergattern.
In einer Zeit, in der die kleinen Dorfkirmes zunehmend an Zugkraft und somit an Ertrag verliert, gilt die Konzentration den großen, überregional bekannten und daher hervorragend besuchten Volksfesten. Deren lukrative Plätze sind rar gesät und entsprechend heiß begehrt. Bei aller Konkurrenz um diese Fleischtöpfe zeichnet sich die Schaustellerbranche jedoch nach wie vor durch großen Zusammenhalt untereinander aus. Mit dem 1950 gegründeten Deutschen Schaustellerbund und dem zwei Jahre jüngeren Bundesverband Deutscher Schausteller und Marktkaufleute gibt es gleich zwei große Verbände, die sich der Förderung von Volksfesten und Jahrmärkten einerseits und der Sicherung und Verbesserung der wirtschaftlichen und gesetzlichen Situation ihrer Mitglieder andererseits verschrieben haben.
In die Wiege gelegt
Den größten Rückhalt aber – und das hat sich in all der Zeit nicht verändert – finden Schausteller in der eigenen Familie. Sie ist der Kern allen Tuns und Seins. Tagtäglich lebt man auf engstem Raum zusammen. Die stolze Erwähnung, in der wievielten Generation man das Familienunternehmen bereits führe, gehört bei der Vorstellung der eigenen Person unbedingt dazu. Die Tradition ihrer Vorfahren fortführend, ist das Schaustellern für jeden von ihnen weit mehr als nur ein Beruf. Es ist eine Lebenseinstellung, die ihnen im wahrsten Sinne des Wortes in die Wiege gelegt wurde. Und die sie wiederum den eigenen Kindern in die Wiege legen.
Im gesamtgesellschaftlichen Kontext stellen Schausteller eine sehr in sich geschlossene Gruppe dar. Für Außenstehende ist es zumeist schwer, sich in diese Art des Miteinanders hineinzudenken, geschweige denn hineinzuleben. Partnerschaften zwischen Schaustellerinnen oder Schaustellern mit Menschen aus anderen Gesellschaftsgruppen sind nicht unmöglich, werden aber vergleichsweise selten eingegangen. Zum einen ist das Kennenlernen relativ schwierig, da es kaum Berührungspunkte jenseits des Kassenhäuschens gibt. Zum anderen erweist sich im partnerschaftlichen Alltag immer wieder, dass der Partner oder die Partnerin doch nicht für ein Leben nach Art der Schausteller gemacht ist.
Partnerschaften und Ehen unter Schaustellern haben da deutlich höhere Erfolgsaussichten. Man weiß im Grunde schon vorher, was man aneinander hat und was einen im gemeinsamen Leben erwartet: die Arbeit im elterlichen oder schwiegerelterlichen Geschäft, später eventuell dessen Übernahme. Nur ein verschwindend geringer Anteil des Nachwuchses entscheidet sich für ein Leben außerhalb des Schaustellergewerbes.
Schon in frühen Jahren lernen Kinder und Jugendliche darum die wichtigsten Handgriffe anwendungsbezogen unmittelbar im Alltag. Handwerkliches Grundwissen gehört ebenso zu den vermittelten Inhalten, wie kaufmännische Basics oder das Fahren der familieneigenen Transportfahrzeuge. Bis ins 19. Jahrhundert hinein war das alles, was gebraucht wurde. Formale schulische Bildung wurde meist grob vernachlässigt. Wenn Schaustellerkinder überhaupt eine Schule besuchten, blieben sie am Ende meist ohne Abschluss. Zu Hause war viel zu tun und die berufliche Zukunft war im elterlichen Betrieb ohnehin gesichert.
Nicht für die Schule, fürs Leben
Etwa ab 1900 änderte sich die Sicht der Familienoberhäupter auf den schulischen Werdegang der Kinder. Während der Saison besuchten die jüngeren unter ihnen nun an jedem Veranstaltungsort für einige Tage die jeweilige Volksschule. In einer Kladde bestätigte das Lehrpersonal den Besuch. Ein Wechsel an weiterführende Schulen oder ein regelmäßiger Schulbesuch über das Teenageralter hinaus war allerdings eher nicht vorgesehen. Lesen, Schreiben und Rechnen reichten nach damaliger Auffassung als Grundlage. Danach wurden die Kinder im elterlichen Betrieb gebraucht.
Auch dieser Ansatz wurde im Lauf der kommenden Jahrzehnte mehrfach überdacht und angepasst. Ab den 1960er-Jahren entschieden sich finanziell gut aufgestellte Eltern, ihre Kinder auf Internate zu entsenden, damit sie sich dort voll und ganz auf die schulische Ausbildung konzentrieren konnten. Bis dahin im Wohnwagen und Alltag täglich beieinander, führte ein Internatsaufenthalt vielfach zu heftigem Trennungsschmerz auf beiden Seiten. Bei weitem nicht alle Kinder und Jugendliche hielten diesen Schmerz aus. Die meisten brachen den Schulbesuch vorzeitig ab.
Gängigste Praxis ist und bleibt jedoch der Schulbesuch auf Reisen. Ein von der Kultusministerkonferenz eingeführtes Schultagebuch hat längst die an jeder Schule auszufüllende Kladde ersetzt. Dieses Tagebuch bescheinigt nicht nur den Besuch, es umreißt auch das vermittelte Wissen. Der heimatlichen Stammschule ist es so möglich, den Wissensstand zu ermitteln, Lücken zu schließen und aus dem Gesamtbild die Versetzungsfähigkeit zu ermitteln. Seit 1998 gibt es im Rahmen des Projekts »Schule unterwegs« zudem sogenannte Bereichslehrer, die die schulpflichtigen Schaustellerkinder auf den Volksfestplätzen besuchen, um bei Hausaufgaben zu helfen oder Nachhilfeunterricht zu erteilen.
Der Themenbereich »Schaustellerkinder und Schule« ist und bleibt weiterhin in Bewegung. Gerade die beiden großen Schaustellerverbände arbeiten schon seit ihrer Gründung stetig daran, die Schulsituation für Schaustellerkinder zu verbessern. So stellte das Bildungswerk Deutscher Schausteller Ende der 2010er-Jahre erstmals ein reisendes Schulmobil vor. Seit September 2021 steht das digitale Bildungsangebot DigLu (Digitales Lernen unterwegs) online zur Verfügung. Mit dessen Hilfe soll eine vergleichbare schulische Bildung aller reisenden Kinder in den einzelnen Bundesländern sichergestellt werden.
Auf diese Art sollen sie alle bestmöglich auf die Herausforderungen unserer Zeit vorbereitet werden, während sie auf die Schultern ihrer Vorfahren steigen und deren lange Tradition fortführen, indem sie Jahrmärkte wie den Öcher Bend in fremdartig verlockende Landschaften verwandeln.
Dieser Artikel wurde ursprünglich im Katalog zur Ausstellung »Der Bend ist auf« im Aachener Stadtmuseum Centre Charlemagne veröffentlicht. Die Ausstellung bot zwischen dem 3.6. und 20.8.2023 einen umfassenden Blick auf das Schaustellerleben im Allgemeinen und den Öcher Bend im Speziellen. Nach ihrem Ende ist es mir jetzt erlaubt, den Text auch hier zu veröffentlichen.
Bei der Recherche zu diesem Text waren mir alteingesessene Schaustellerfamilien aus dem Aachener Raum, beide großen Schausteller-Verbände und die mit enormem Herzblut betriebene Website »Kulturgut Volksfest« eine große Hilfe. Herzlichen Dank dafür.