Sonja Mischor: Grenzenlos kreativ

NEO 18, Seite 6

»Mach all die Din­ge, die Dir lie­gen oder zuflie­gen«, sagt Son­ja Mischor. Und weil sich die Wahl-Aache­ne­rin beim Ver­fol­gen die­ser Idee völ­li­ge Frei­heit gönnt, spielt sie Musik von Expe­ri­men­tel­lem bis Jazz und ist Performance-Künstlerin.

Noch ein­mal lächelt Son­ja Mischor, dann ver­schwin­det sie kurz. Den Raum muss sie dazu nicht ein­mal ver­las­sen. Alles, was sie für ihre klei­ne Rei­se braucht, ist ein Instru­ment. In dem Moment, in dem sie die sin­gen­de Säge mit ihren Bei­nen spannt, ver­sinkt sie ein Stück weit. Und wäh­rend der Gei­gen­bo­gen in ihrer rech­ten Hand dem Metall sir­ren­de Töne ent­lockt, ist sie plötz­lich ganz bei sich. Ihre lin­ke Hand bestimmt durch Bie­gen des Blatts die Höhe der Klän­ge. Ein wenig Vor­sicht ist dabei gebo­ten. Das hier ist ein ech­tes Werk­zeug. Die Zäh­ne der Säge hät­ten in der Tat das Zeug, einen Baum zu fäl­len. Dass Son­ja Mischor der­art kon­zen­triert zu Wer­ke geht, liegt jedoch nur zu einem gerin­gen Teil an irgend­wel­chen Sicher­heits­ge­dan­ken. Haupt­säch­lich ist es die Musik, von der sie völ­lig ein­ge­so­gen wird. Erst als der Bogen steht und das kon­ti­nu­ier­li­che Flir­ren auf­hört, ist sie wie­der da. Und lächelt.

Ehrgeiz, Etüden und Experimentelles

Außer­ge­wöhn­li­che Instru­men­te wie die sin­gen­de Säge, Kom­po­si­tio­nen jen­seits übli­cher Lied­struk­tu­ren, freie Impro­vi­sa­ti­on statt star­rem Kor­sett: Son­ja Mischor ist eine Musi­ke­rin, die sich in ihrem Schaf­fen nicht von irgend­wel­chen Gren­zen oder Kon­ven­tio­nen ein­zäu­nen lässt. Zu weit ist ihr musi­ka­li­scher Hori­zont, zu groß ihr Drang, sich in immer neu­en For­men aus­zu­drü­cken. Schon in jun­gen Jah­ren ist sie in Berüh­rung mit expe­ri­men­tel­ler Musik gekom­men. Auf­ge­wach­sen in einem musik­be­geis­ter­ten Eltern­haus am Nie­der­rhein, war eine Block­flö­te ihr Ein­stieg ins Musi­zie­ren. Nach­dem sie sich die­se fast im Allein­gang erschlos­sen hat­te, stand ihr der Sinn schon bald nach einem Umstieg auf die Quer­flö­te. Bis heu­te sind die Flö­ten ihr Hauptinstrument.

»Schon beim Auf­ste­hen freu­te ich mich auf die Flö­te«, erin­nert sie sich. »Jeden Tag habe ich stun­den­lang gespielt. Ich woll­te das Instru­ment und alles, was es kann, ent­de­cken. Ist das nicht toll, wenn man als Kind etwas hat, das einem das Herz auf­ge­hen lässt?« Ihre Leh­rer bestärk­ten sie in die­sem natür­li­chen Ehr­geiz. Zwar schränk­te Quer­flö­ten­leh­rer Fran­cis­co Este­véz die Frei­heit bis­wei­len durch qual­vol­les Etü­den­üben ein. Qua­si als Wie­der­gut­ma­chung öff­ne­te er sei­ner Schü­le­rin aber auch erst­ma­lig die Tür zu der bis dato unbe­kann­ten Klang- und Erleb­nis­welt der Neu­en Musik, als sie mit ihm sei­ne Kom­po­si­tio­nen auf­füh­ren durfte.

In Anbe­tracht der neu­en Mög­lich­kei­ten, die sich dort boten, war Son­ja Mischor tief beein­druckt. Mit gera­de ein­mal 14 Jah­ren ver­fass­te sie ers­te eige­ne expe­ri­men­tel­le Kom­po­si­tio­nen, die sie gemein­sam mit Este­véz auch schon vor Publi­kum prä­sen­tier­te. Im sel­ben Alter gehör­te sie auf dem New Jazz Fes­ti­val Moers zum Ensem­ble des Glo­be Unity Orches­tra, spiel­te unter der Lei­tung von Geor­ge Lewis mit gro­ßen Namen wie Gerd Dudek oder Ken­ny Whee­ler. Das war im Jahr 1982.

Sonja Mischor und ihre singende Säge

Was raus muss

Über drei Jahr­zehn­te spä­ter hat das Expe­ri­men­tie­ren mit Musik für Son­ja Mischor nichts von sei­ner Fas­zi­na­ti­on ver­lo­ren. Ganz im Gegen­teil: Das Musik­ma­chen gera­de im expe­ri­men­tel­len Bereich, so sagt sie selbst, ver­schafft ihr nach wie vor ein wun­der­ba­res Gefühl von Frei­heit. »Man kann alles an Emo­tio­nen und Emp­fin­dun­gen raus­las­sen, was raus muss, schräg sein, weg­ren­nen, ein Unwet­ter ent­fes­seln und sich auf die kla­re Luft nach dem Sturm freu­en.« Ihr Instru­men­ta­ri­um für den Weg zu die­ser Frei­heit hat sich seit den Anfangs­ta­gen ver­viel­facht. Ab 1992 hat sie klas­si­schen Gesang erlernt, das Basis­wis­sen spä­ter durch Work­shops in den Berei­chen Ober­ton­ge­sang und Jazz erweitert.

Dar­über hin­aus sind im Lauf der Jah­re von ver­schie­de­nen Flö­ten bis zur Uku­le­le und dem Syn­the­si­zer zahl­rei­che Instru­men­te dazu­ge­kom­men, mit deren Hil­fe sie im Bedarfs­fall einen Klang­kos­mos in allen Far­ben und Schat­tie­run­gen auf­span­nen kann. Mit der Zeit hat Son­ja Mischor ein Fai­ble für klei­ne, außer­ge­wöhn­li­che Instru­men­te ent­wi­ckelt. Die ent­spre­chen­de Samm­lung wächst ste­tig. Wie­vie­le sie tat­säch­lich spielt, ist schwer zu ergrün­den. Zumal sie selbst ledig­lich zwei »rich­ti­ge Instru­men­te« auf der Haben-Sei­te sieht. »Flö­ten und Gesang. Den Rest spie­le ich halt nur so.« Beschei­den­heit gehört frag­los zu Son­ja Mis­chors Eigen­schaf­ten. Eine Beschei­den­heit ohne jede Spur die­ses anstren­gend koket­tie­ren­den Under­state­ments, das vie­len Künst­lern sonst zu eigen ist.

Tat­säch­lich sieht sie sich selbst nicht als eine die­ser nach vor­ne pre­schen­den Ram­pen­säue. »Ich war als Kind sehr schüch­tern, aber ich bin trotz­dem damals schon ger­ne auf die Büh­ne gegan­gen. Und wenn ich jetzt da oben ste­he, schaue ich, dass etwas Gutes dabei her­aus­kommt.« Etwas Gutes ist für sie bei­spiels­wei­se, wenn sie Musik tei­len kann – mit dem Publi­kum, aber eben auch mit ande­ren Musi­kern. Gemein­sa­mes Musik­ma­chen mit Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen ist für sie ein sinn­stif­ten­der Bestand­teil ihres Berufs. »Sicher ist es manch­mal anstren­gend, ver­schie­de­ne Cha­rak­te­re unter einen Hut zu bekom­men. Aber wenn es passt und man zuein­an­der fin­det, ein­an­der stützt, ent­steht etwas Groß­ar­ti­ges, das man nur im Kol­lek­tiv schaf­fen kann.«

Die ganze Fläche

Seit den 90er Jah­ren war und ist sie dar­um Teil und trei­ben­de Kraft zahl­rei­cher Koope­ra­tio­nen, Kol­la­bo­ra­tio­nen oder Band-Pro­jek­te. Mit dem Adam Noidlt Inter­mis­si­on Orches­tra aus Köln avan­cier­te sie etwa zum musi­ka­li­schen Stamm­gast im WDR-Fern­se­hen. Mit Tei­len der Nina Hagen Band unter­nahm sie Film­ver­to­nun­gen. Mit den Kol­le­gin­nen Sascha Ley und Kir­s­ti Alho insze­nier­te sie einen rasan­ten Gen­re­mix zwi­schen Schau­spiel und Musik. Mit Anna­li­sa Deros­si kre­iert sie bis in die Gegen­wart Klang- und Tanz­per­for­mance-Kunst. Schon die­se Bei­spie­le machen deut­lich, dass Son­ja Mischor kei­ner­lei Berüh­rungs­ängs­te mit ande­ren Kunst­for­men kennt. Natür­lich nicht.

klenkes NEO, Ausgabe 18

Schließ­lich ist sie in der Ver­gan­gen­heit selbst auch in der bil­den­den Kunst tätig gewe­sen: Ihre Objek­te und Licht-Klang­in­stal­la­tio­nen wur­den in Aachen und Maas­tricht aus­ge­stellt, in Basel, Brüs­sel, Mün­chen und Stock­holm. Das nöti­ge Rüst­zeug für die­sen ver­meint­lich musik­frei­en Teil ihrer Lauf­bahn erhielt sie im Rah­men eines Objekt­de­sign­stu­di­ums an der FH Aachen, für das sie Mit­te der 90er Jah­re in die Stadt kam und blieb. Ver­meint­lich? »Bei Ihnen ist wirk­lich alles musi­ka­lisch«, hat Pro­fes­so­rin Chris­tia­ne Maether ihr ein­mal ver­si­chert. Und wirk­lich tren­nen las­sen sich Musik, bil­den­de, aber auch dar­stel­len­de Kunst für Son­ja Mischor tat­säch­lich nicht.

Kon­se­quen­ter­wei­se hat sie ihrem musi­ka­li­schen Schaf­fen schon vor über einem Jahr­zehnt eine thea­tra­le Kom­po­nen­te hin­zu­ge­fügt, ihre ver­schie­de­nen künst­le­ri­schen Zwei­ge dabei unter einem Dach ver­eint: In ihren Per­for­man­ces lau­fen all die Aus­drucks­for­men zusam­men, die sie im Lauf der Jah­re für sich ent­deckt hat. Sie kom­po­niert und pro­du­ziert nicht nur die Musik, sie ent­wirft und schnei­dert auch die Kos­tü­me, gießt klei­ne Geschich­ten in poe­ti­sche Tex­te, ersinnt die Cho­reo­gra­phien und über­nimmt den Schnitt der Video­se­quen­zen, die ihre jewei­li­ge Dar­bie­tung untermalen.

»Ich ver­su­che immer, das Gan­ze zu sehen. Egal ob in der Kunst oder in der Musik.«

Son­ja Mischor

Spra­che wird in die­sem Kon­text zu einem eigen­stän­di­gen Instru­ment, zum Trans­port­mit­tel für Gefüh­le. Hebrä­isch rück­wärts live gesun­gen über elek­tro­nisch ver­frem­de­ten Auf­nah­men in Dau­er­schlei­fe oder zor­ni­ge Ent­äu­ße­run­gen in Spa­nisch über stump­fer Rhyth­mik: Wenn es the­ma­tisch passt, ist alles erlaubt. Da ist sie wie­der, die­se wun­der­vol­le Frei­heit. Und wenn die ande­ren Din­ge an der rich­ti­gen Stel­le sit­zen, kann auch Stil­le ein pro­ba­tes Mit­tel sein. »Gestal­tet wird die gan­ze Flä­che«, die­sen Anspruch eines frü­he­ren Pro­fes­sors hat Son­ja Mischor für das eige­ne Schaf­fen mit­ge­nom­men. »Das habe ich so ver­in­ner­licht, dass ich immer ver­su­che, das Gan­ze zu sehen. Egal ob in der Kunst oder bei der Musik.«

Augenzwinkernd herausgefordert

Das Zusam­men­spiel mit ande­ren fas­zi­niert sie seit jeher aber auch in ande­ren musi­ka­li­schen Gen­res. Ihre heim­li­che Lei­den­schaft gehört etwa dem Bos­sa Nova, den sie zusam­men mit Heri­bert Leuch­ter und sei­ner Jazz Com­bo auf die Jazz­büh­ne des Grenz­land­thea­ter Aachen brach­te. Oder ihre Zusam­men­ar­beit mit dem Ste­fan Mich­al­ke Trio: »Ich hat­te mich ein Jahr lang hin­ge­setzt und 20 Jazz-Num­mern mit dem Ziel kom­po­niert, sie auf die Büh­ne zu brin­gen. Als ich die Stü­cke erst­mals mit dem Mich­al­ke Trio auf­füh­ren durf­te, war das ein rie­si­ges Glücks­ge­fühl. Die eige­nen Stü­cke mit pro­fes­sio­nel­len Musi­kern live zu spie­len und zu erle­ben, bekommt noch ein­mal eine ganz ande­re Dimension.«

klenkes NEO, Ausgabe 18, Seite 8

In die­sem Sin­ne fun­giert sie zusam­men mit dem Akkor­deo­nis­ten He Joe Schen­kel­berg ein­mal im Quar­tal – jeweils am ers­ten Mitt­woch des drit­ten Monats – als Gast­ge­be­rin der »Live Soi­rée« im Aache­ner Franz. Zu jeder Soi­rée begrü­ßen die bei­den einen ande­ren Gast, um mit die­sem den Abend musi­ka­lisch zu gestalten.

»Die­se Aben­de sind immer eine tol­le Gele­gen­heit, ande­re Musi­ker und deren künst­le­ri­sche Ansät­ze ken­nen­zu­ler­nen.« Son­ja Mischor ver­steht das Gan­ze als Her­aus­for­de­rung, die alle Betei­lig­ten pro­fes­sio­nell, aber eben auch nicht all­zu bier­ernst anneh­men. In immer neu­en Musi­ker-Kon­stel­la­tio­nen ent­wi­ckeln sich so außer­ge­wöhn­li­che, über­ra­schen­de, augen­zwin­kernd impro­vi­sier­te Ver­sio­nen der jewei­li­gen Lie­der, wie sie andern­orts kaum ent­ste­hen könn­ten. Die Live Soi­rée im Franz hat sich über die Jah­re zu einem fes­ten Anlauf­punkt für Musik­freun­de jeden Alters eta­bliert. Und sie ist ein wei­te­rer Aus­druck der musi­ka­li­schen Neu­gier, die Son­ja Mischor aus ihrer Kind­heit hin­über ins Erwach­se­nen­al­ter geret­tet hat.

Ursprüng­lich ver­öf­fent­licht wur­de die­ses Por­trät in Aus­ga­be 18 der Aache­ner Stadt­zei­tung »klen­kes NEO«.

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