Emanuel Richter lehrt Politische Wissenschaften mit dem Schwerpunkt Politische Systeme und Comparative Politics an der RWTH Aachen. Zu seinen Fachgebieten gehört die vergleichende Systemforschung im westeuropäischen und atlantischen Raum. Im Auftrag des »Grenz Echo«, der deutschsprachigen Tageszeitung für Ostbelgien, habe ich im Vorfeld der US-Präsidentschaftswahl mit Professor Richter gesprochen.
Herr Professor Richter, in der Fernsehdebatte zum Thema Außenpolitik lagen die Positionen der beiden Kandidaten nicht allzu weit auseinander. Ist es für Europa darum nicht eigentlich egal, wer Präsident der USA wird?
»Obama hat sich in seiner ersten Amtszeit nicht sonderlich für Europa interessiert und wird das vermutlich auch weiterhin nicht tun. Auch Romney würde diese Politik sicherlich fortsetzen. Insofern bringt die Wahl für die europäische Politik keine Richtungsentscheidung. Aber Romney würde aggressiver und offensiver in einigen Krisenherden der Welt auftreten, zum Beispiel gegenüber dem Iran oder China. Ein solcher Konfrontationskurs würde die Europäer dazu zwingen, entweder diesen imperialen Gesten beizupflichten, oder sich unter Gefährdung der deutsch-amerikanischen Freundschaft entschlossen von ihnen zu distanzieren.«
Innenpolitisch zeigen sich deutlichere Differenzen. Welche konkreten Auswirkungen hat der Ausgang dieses Lagerwahlkampfes auf Europa?
»Romney bedient ein Stereotyp des amerikanischen Gründungsmythos, nämlich den eigentlich calvinistischen, überzeichneten Traum des materiellen und spirituellen Erfolges für den Tüchtigen und der Bestrafung für diejenigen, die sich dem Müßiggang hingeben. Das hat er in seiner umstrittenen Rede deutlich gemacht, als er im Ton der Verachtung 47 Prozent der Amerikaner unterstellte, sie würden von der Unterstützung des Staates abhängig sein. Romney will den Verdrängungswettbewerb unter marktversessenen Individualisten, Obama setzt mehr auf eine solidarische Gesellschaft, die Hilfsbedürftigkeit nicht als Makel ansieht und staatliche Wohlfahrtsregulierung fordert. Insofern entspricht Obama mehr dem Geist unserer europäischen Sozialsysteme als Romney.«
Welche Themen haben den Wahlkampf maßgeblich bestimmt?
»Vor allem die gerade beschriebene Differenz bezüglich der Rolle des Staates und die daran geknüpfte Politik der Steuererhebung. Aber bei einem Sieg Romneys würde sich der stilisierte Gegensatz sicherlich schnell minimieren, denn manches ist schlicht polarisierende Wahlkampfrhetorik. Romney hat beispielsweise als Gouverneur von Massachusetts durchaus eine derartige staatliche Regulierung in der Gesundheitsvorsorge befürwortet und durchgesetzt, wie er sie jetzt Obama als Einmischung des Staates in private Freiheitsräume vorhält.«
Bei den neuesten Umfragen liegen die Kandidaten Kopf an Kopf, während Obama in Europa überwältigende Zustimmung genießt. Woher kommt diese unterschiedliche Wahrnehmung?
»Das liegt am vorhin beschriebenen, unterschiedlichen Staatsverständnis zwischen gemäßigten Europäern und radikalen Marktliberalen wie Romney. Obama wirkt wie ein europäischer Sozialdemokrat, er propagiert eine gemäßigte staatliche Wohlfahrtspolitik, und das liegt den Europäern allemal näher als der entfesselte, wettbewerbsfixierte Individualismus, dem Romney huldigt.«
Welchen Einfluss haben Lobbyverbände auf den Ausgang der Wahl? Warum hat sich beispielsweise Obama nach dem Amoklauf von Aurora nicht für ein rigideres Waffenrecht ausgesprochen?
»Der Einfluss von Interessenverbänden wird immer größer und aggressiver. Durch eine Umgehung der Vorschriften für die Reduzierung von Wahlkampfspenden pumpen einflussreiche Lobbygruppen unermessliche Summen und Erwartungen in ihre jeweiligen Kandidaten, nicht nur beim Präsidentschaftswahlkampf, sondern bei allen politischen Wahlen. Obama, der sich gerne als unabhängiger Staatsmann präsentiert, kann sich keineswegs gegen das Recht auf privatem Waffenbesitz sperren, wenn sich die ›National Rifle Association‹, übrigens der größte Interessenverband der USA mit 4,2 Millionen Mitgliedern, dafür ausspricht.«
Vor welchen grundsätzlichen innen- und außenpolitischen Herausforderungen stehen die USA?
»Die USA haben immer noch massive Probleme mit ihrem Arbeitsmarkt, mit der sozialpolitisch brisanten Spreizung zwischen extrem Reichen und vielen Verarmten, mit maroden Finanzmärkten und Banken, mit ihrer negativen Außenhandelsbilanz. Der neue Präsident täte gut daran, sich auf die innenpolitischen Probleme zu konzentrieren und der Pflege der imperialen Weltgeltung der USA nur nachgeordnete Aufmerksamkeit zu widmen.«
Was kann die Welt von einem US-Präsidenten Romney erwarten? Droht eine Rückkehr zur Hardliner-Politik des George W. Bush?
»George W. Bush ist ja vor allem durch die Anschläge des 11. September 2001 außenpolitisch so unter Druck geraten, dass er sich zu einer Art Kreuzzugspolitik gegen Teile der islamischen Welt aufgeschwungen hat. Wenn keine weltpolitischen Katastrophen passieren, würde Romney vermutlich in einigen internationalen Krisenherden als Hardliner auftreten, sich ansonsten aber auf die Innenpolitik konzentrieren und unternehmerische Grundsätze in der inneramerikanischen Wohlfahrtspolitik durchzusetzen versuchen.«
Welche Bilanz ist nach vier Jahren Obama zu ziehen? Warum hat er sich nicht als der Heilsbringer erwiesen, den viele Menschen 2008 in ihm sahen?
»Obama hat definitiv zu viel an markanten Weichenstellungen versprochen und ist natürlich als erster schwarzer Präsident auch mit zu vielen Heilserwartungen bedacht worden. Man muss Obama den Vorwurf machen, dass er sich anfangs sehr idealisiert als überparteilicher Staatslenker verstehen wollte, der sich über die Ebenen der Interessenpolitik und mühseligen politischen Kompromisssuche erhebt. Das war eine Überschätzung des Amtes, und insbesondere die Midterm-Wahlen 2010, in denen im Kongress die demokratische Mehrheit verloren ging, haben ihm einen Strich durch die hehren Großprojekte gemacht. Im Kleinklein der Tagespolitik macht Obama eine eher mittelmäßige Figur.«
Parallel zur Präsidentschaftswahl finden auch Wahlen zum Kongress statt. Ist diese Wahl mit Blick auf eben diese Midterm-Wahlen 2010 nicht mindestens genauso interessant?
»Die Kongresswahlen wären nur dann höchst spannend, wenn Romney das Rennen machen würde, aber das Repräsentantenhaus enorme Gewinne für die Demokraten einstreichen könnte. Eine solche Umkehrung der Mehrheitsverhältnisse ist aber eher nicht zu erwarten. Bedeutsam für die amerikanische Politik ist im Grunde nur, ob es für den Präsidenten eine Mehrheit seiner Partei im Kongress gibt oder ob er sich mit einer Mehrheit der Gegner arrangieren muss. Letzteres tritt seit einigen Jahrzehnten viel häufiger auf und ist uns Europäern sympathischer, weil wir traditionell großes Vertrauen in einen lebendigen Konfrontationskurs zwischen starker Regierungsfraktion und starker Opposition haben.«
Nach US-Wahlrecht hat jeder Präsident maximal zwei Amtszeiten zur Verfügung. In der Vergangenheit haben viele Präsidenten in der zweiten Periode ihr wahres Gesicht gezeigt, als sie nicht mehr auf eine weitere Wiederwahl und somit die Gunst der Wähler schauen mussten. Was wäre in diesem Zusammenhang von einer zweiten Amtszeit Obamas zu erwarten?
»Obama würde die Gelegenheit erhalten, von der Rhetorik des Großreformers abzurücken und sich verstärkt in die Niederungen der kleinteiligen Politikveränderungen zu begeben. In Politikfeldern wie der Sozial- und Gesundheitspolitik, der Aufsicht über den Finanzsektor, der Arbeitsmarktpolitik, Guantanamo, der Energie- und Klimapolitik, den neuen Fragen des multikulturellen Zusammenlebens, der Reduzierung des amerikanischen Engagements in weltpolitischen Krisenzonen könnte er kleinschrittige, aber dennoch umstrittene Reformen durchsetzen, auch unter Gefährdung seiner großen staatsmännischen Popularität, die ja nicht mehr sorgsam gepflegt werden müsste, weil keine erneute Wiederwahl möglich ist.«
Wie ist die Stimmung in den USA? Wer hat auf der Zielgeraden die besseren Aussichten auf einen Wahlerfolg?
»Interessant und bedrückend zugleich ist die Tatsache, dass eine nationale Katastrophe wie der Hurricane ›Sandy‹ die Aussichten desjenigen Präsidentschaftskandidaten verbessert, der sich medial ansprechender als der besorgte Politiker und effiziente Krisenmanager präsentiert. Generell erlangt vor allem der amtierende Präsident als verantwortlicher Staatslenker eine willkommene Bühne der vertrauensfördernden Selbstdarstellung. Aktuell gibt Obama ein besseres Bild ab als Romney, was sich ja auch prompt in veränderten Prognosen zugunsten von Obama niederschlägt.«
Welchen Präsidenten würden Sie sich persönlich wünschen?
»Ich teile die Ernüchterung und Enttäuschung vieler diesseits und jenseits des Atlantiks hinsichtlich der Reformrhetorik, die Obama zu Beginn seiner ersten Amtszeit herausposaunt hat und der keine entsprechenden Großtaten folgten. Meine Skepsis geht aber nicht so weit, dass ich ihm deshalb nicht eine zweite Amtszeit wünsche, in der er entschlossener wenigstens einiges von dem umsetzt, was er anfangs verkündet hat.«
Und wie werden Sie die Wahlnacht verbringen?
»Während die Amerikaner wählen, werde ich schlafen, das legt ja auch die Zeitverschiebung nahe. Wenn die Amerikaner aber gewählt haben und die ersten Ergebnisse bekannt werden, werde ich hellwach sein und in unserem Institut für Politische Wissenschaft an der RWTH Aachen eine große Wahlparty eröffnen, auf der wir Ergebnisse, Kommentare, Diskussionen mit Experten aus Deutschland und den USA, und nicht zuletzt amerikanische Leckereien und Getränke präsentieren werden.«
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Richter.
Im Rahmen der Reihe »Uni im Rathaus« wird Emanuel Richter am 5. November 2012 an einer Podiumsdiskussion im Aachener Rathaus teilnehmen, bei der es ebenfalls um die Präsidentschaftswahl in den USA gehen wird. Weitere Teilnehmer an diesem Abend werden Professor Dr. Klaus Schwabe vom RWTH-Lehrstuhl für neuere Geschichte und der WDR-Journalist Helmut Rehmsen sein. Alle wichtigen Informationen zu dieser Veranstaltung finden sich hier.