Bierduschen nach Meisterschaften, in Fan-Spielberichten immer wieder gern erwähnte »Gerstenkaltschalen«, von Gönnern gespendete soundsoviel Liter Freibier pro erzieltem Tor auf der Saisonabschlussfeier: Bier und Fußball sind auf vielen Ebenen miteinander verzahnt. Natürlich auch in Aachen.
Ein Sonntag wie viele in der Soers der 80er-Jahre: Kurz nachdem der Schiedsrichter auf dem Tivoli zur Halbzeit gepfiffen hat, kündigen die Lautsprecher mit leichtem Summen den Beginn des Werbeblocks an. Aus seiner Kabine, die sich wie ein Schwalbennest unter das Dach der Haupttribüne kuschelt, präsentiert Stadionsprecher Robert Moonen dem weiten Rund einige unverzichtbare Verbrauchertipps. Wie immer wird er auch den damals wohl bekanntesten Reim der Stadt zum Besten geben – den mit dem 100-jährigen Opa und dem obergärigen Öcher Bier.
Und wie immer holt während der letzten Silben dieses Kurzgedichts ein Mann auf den Stufen des Würselener Walls tief Luft. »Jou«, bellt er unter dem Schirm seiner Helmut-Schmidt-esken Schiffermütze hervor, kaum dass das Wort »obergärig« aus den Boxen geschallt ist. »Und de Omma wurde hundertzehn!« Mehr ruft er nicht. Das aber in jeder Halbzeit jedes Heimspieltages jener Zeit. Erst mit dem Aus der Degraa-Brauerei im Jahr 1989 endet diese Tradition. Dass die Alemannia ein Jahr später aus der Zweiten Bundesliga absteigt, kann Zufall sein.
Genussbiere, Stressbiere
Das Leben als Fußballfan hat viel mit Aberglauben und Ritualen zu tun: immer derselbe Weg zum Stadion, immer derselbe ungewaschene Schal bis die eigene Mannschaft verliert, immer die erste Stufe hinauf zur Tribüne mit demselben Fuß. Manche dieser Rituale wiederum haben mit Bier zu tun. Das immer gleiche, lautstarke Kommentieren einer Bierreklame, wie es der Schiffermützenträger in den 80ern auf dem Würselener Wall vollzog, stellt in diesem Kontext eher eine Ausnahme dar. Meist geht es schlicht und ergreifend um das Trinken von Bier vor, während oder nach dem Spiel.
»Wenn das Spiel spannend ist, trink ich wesentlich flotter und mehr«, erzählt Alemanniafan Achim Foki von seinem persönlichen Zusammenhang zwischen Hopfen, Malz und dem schwarz-gelben Gekicke. »Stressbiere« nennt der Mittvierziger die Rationen, die während des Spieles fließen. Die Biere vor dem Anpfiff hingegen sind für ihn »Genussbiere«. Für sie verabredet er sich mit anderen Anhängern in einer Kneipe im Stadtzentrum. Wenn die Zeit bis zum Spiel ein solch gemütliches Beisammensein nicht zulässt, dürfen es auch schon mal ein paar Genussbiere vom Kiosk sein, der auf dem Weg zum Stadion liegt.
Andere Fans wählen die Wirtschaft im Inneren des Stadions als Anlaufpunkt für ein paar Biere und etwas Fachsimpelei vor dem Spiel. Früher, als der Tivoli noch einige hundert Meter weiter die Straße hinauf stand, gab es in seinem Umkreis gleich mehrere Kneipen, in denen am Spieltag diese Form des wahren Lebens brummte. Hardcore-Fans, Allesfahrer, Fußballanalytiker, chronische Pessimisten, manische Optimisten, Raufbrüder, Munkler mit direkten Verbindungen zu »gut informierten Kreisen«, Dutzende zu Höherem berufene Trainer ohne Trainerschein: Hier traf man sie alle beim Bier. Und gar nicht selten auch die Spieler der Alemannia.
Volksnähe und Putenbrust
Erdige Typen wie Mittelstürmer Heinz-Josef Kehr ließen es sich nicht nehmen, sich auch am Spieltag unter ihre Anhänger zu mischen. Kantig und mit offenem Visier spielte er während zweier Engagements bei der Alemannia zwischen 1976 und 1982 Fußball. Ebenso verhielt sich der Mann, den sie alle »Bübbes« riefen, auch den Fans gegenüber. Selbst nach Niederlagen scheute er nicht den Weg ins »Hotel Cortis«, um dort an der Theke zu den gerade beendeten 90 Minuten Rede und Antwort zu stehen.
»Trinkst Du nicht mit, halten sie Dich für hochnäsig. Trinkst Du aber mit und spielst nächste Woche schlecht, heißt es: Klar, wie der säuft!« (Bübbes Kehr)
Dass ihn seine Gesprächspartner dazu auf das eine oder andere Bier einluden, machte die Treffen zu kleinen Gratwanderungen. »Trinkst Du nicht mit, halten sie Dich für hochnäsig. Trinkst Du aber mit und spielst nächste Woche schlecht, heißt es: Klar, wie der säuft!« Seiner Popularität haben diese getränketechnischen Ritte auf der Rasierklinge niemals einen Abbruch getan. Bis heute gehört der im November 2014 verstorbene Bübbes eben wegen seiner Volksnähe und seiner trotz aller Thekenbesuche tadellosen Berufsauffassung zu den Alemannen, an die sich jeder immer gerne erinnert.
In der Gegenwart sind solche Begegnungen hingegen gar nicht mehr vorstellbar. Und das liegt nur zum Teil daran, dass es die Theke im Hotel Cortis nicht mehr gibt. Schon seit Jahren stehen Kneipenszenen der Idee des perfekten und disziplinierten Fußballprofis entgegen. Im Herbst 2000 – rund zwei Jahrzehnte nach Kehrs aktiver Zeit – wurde Keeper André Lenz vom damaligen Coach Eugen Hach für ein Spiel suspendiert, weil er unter der Woche abends in einer Aachener Wirtschaft gesehen worden war. Kaum auszudenken, hätte Lenz dort auch noch Bier getrunken. Augenzeugen berichteten jedoch von Apfelschorle zum Putenbrustsalat. Dass André Lenz heute Teilhaber einer Kneipe in Barcelona ist, kann Zufall sein.
Netzwerk unter dem Netzwerk
Thomas Christian gehört nicht zu jener Gattung der Fußballanhänger, die man an Spieltagen in Kneipen rund ums Stadion trifft. Dennoch spielen auch in der Fanbiographie des 40-Jährigen Orte eine wichtige Rolle, an denen Bier verkauft wird. »Die Getränkebuden am alten Tivoli waren für mich ein Netzwerk unter dem Netzwerk. In Prä-Handy-Zeiten noch nicht ständig erreichbar, konnten wir uns sicher sein, hier auch ohne Verabredung immer die richtigen Leute zu treffen.« Jede Bude im Umlauf des Stadions fungierte als Anlaufpunkt für verschiedene Gruppen, deren Mitglieder von da aus gemeinsam auf ihren Tribünenstammplatz gingen. Natürlich nicht, ohne vorher die aktuellen Belange der Alemannia besprochen zu haben.
»Das letzte Auswärtsspiel, die Trainingsleistungen unter der Woche, die zu erwartende Aufstellung: Vor dem Spiel wurde über alles ausgiebig gefachsimpelt«, erinnert sich Christian. »Als Kommunikationszentralen waren die Buden analoge Vorläufer heutiger Internet-Diskussionsforen oder Social-Media-Kanäle.« Er hat noch sehr genau vor Augen, wie sich die Leute mit ihren Bechern in den Händen im Pulk um die jeweiligen Theken scharten – »regelrecht volksfestartig«. In dieser Hinsicht hat er im nicht mehr ganz neuen Stadion und an dessen Theken eine enorme Veränderung beobachtet: Statt im Pulk stehen die Leute dort in Schlangen. Aus den Kommunikationszentralen sind reine Verkaufsstellen geworden. Diskutiert wird inzwischen an anderen Orten.
Jubel, Trubel, Heiterkeit
Im großen Stil gejubelt wird mittlerweile auch eher an anderen Orten. Seit dem Abstieg aus dem Profifußball und der mittlerweile zweiten Insolvenz werden in Aachen sportlich eher kleinere Brötchen gebacken. Der Leidenschaft der Anhänger haut das keine Katsche in den Lack. Sofern in nächster Zeit kein handfestes Wunder geschieht, gehören ekstatische Szenen wie nach den Aufstiegen der Jahre 1999 und 2006 oder dem Pokalfinale 2004 fürs Erste aber der Vergangenheit an. Und auch diese Szenen sind eng mit dem Genuss von »Gerstenkaltschalen« verbunden. Hektoliterweise schütteten sich die Helden das Bier zuerst gegenseitig über, danach selbst in den Kopf. Pitschnass und glücklich: Wer dabei war, dem haben sich solche Bilder von Typen wie Henri Heeren, George Mbwando oder Willi Landgraf unauslöschbar auf die Festplatte gebrannt.
Pitschnass und vergleichsweise unglücklich war hingegen Gästetrainer Wolfgang Wolf im November 2003 auf dem Tivoli unterwegs. Ein Bierbecher hatte den damaligen Coach des 1.FC Nürnberg am Kopf getroffen und den Höhepunkt eines ohnehin tumultreichen Spiels gebildet. Folge des ganzen Trubels: Dieser einige Gramm schwere Becher und sein Inhalt verschafften der Alemannia das zweifelhafte Vergnügen, das allererste Geisterspiel der deutschen Fußballgeschichte ausrichten zu dürfen. Bachirou Salou wiederum sorgte für den Spaß, dieses allererste Geisterspiel zu gewinnen. Was blieb, war die mehrere Monate währende Komplettvernetzung der Tribünen. Fußball und Bier kann eben auch zu suboptimalen Ergebnissen führen.
Davon kann sicher jeder ein Lied singen, der schon einmal ein Tor verpasst hat, weil er gerade Bier holen oder wegbringen war. Ganz besonders unangenehm erwischte es einen Fan beim Public Viewing des Pokalfinals vor dem Degraa am Aachener Fischmarkt. Beim Stande von 1:2 aus Sicht der Alemannia sanft im Biernebel entschlummert, verpasste er das dritte Tor des Gegners aus Bremen, um erst vom Torjubel beim eher wertlosen Anschlusstreffer in der Nachspielzeit geweckt zu werden. »Sag ich doch, wir holen den Pott in der Verlängerung«, frohlockte er mit schwerer Zunge. Der Schlusspfiff ging im schallenden Gelächter der anderen Gäste unter.
Dieser Artikel wurde ursprünglich im Katalog zur Ausstellung »Bier & Wir« im Aachener Stadtmuseum Centre Charlemagne veröffentlicht. Zunächst bis Anfang März geplant, wurde die Ausstellung wegen des regen Publikumszuspruchs mittlerweile bis zum 8. April verlängert. (Hier böte sich wegen des Artikel-Titels ein Wortspiel mit Verlängerung an, aber man muss ja nicht jede Flanke versenken.)
Das Bild mit dem Schweißband und dem norddeutschen Pils wurde von Carl Brunn geschossen. Es zeigt den Autor des Artikels – also, vor allem seine Hand – während eines Genussbieres im Rahmen der Reise zum DFB-Pokalfinale des Jahres 2004.