Manchmal sehe ich Simon Rolfes noch auf uns zulaufen. Von Sergio Pinto in Szene gesetzt, dringt er halblinks in den Strafraum ein und läuft auf das Tor zu, hinter dem ihn etwa 950 Alemannen anfeuern – alleine vor Keeper Henk Timmer, den Ball am Fuß, die Entscheidung auf dem Schlappen.
Etwas weniger als eine Stunde war gespielt, damals in Alkmaar. Die Alemannia war in der dritten Hauptrunde des UEFA-Pokals zu Gast bei AZ Alkmaar. Nach dem 0:0 im Hinspiel und bei 1:0 Führung durch Erik Meijer wäre das 2:0 wohl der Nagel im Sarg der Niederländer gewesen. In meinem Hinterkopf wurden Fragen laut: Ist mein Reisepass noch gültig? Was kostet so eine Tour in die Ukraine? Der Gegner im Falle unseres Weiterkommens stand so gut wie fest. Zeitgleich, das entnahmen wir der Anzeigetafel in Alkmaar, schmiss Shakhtar Donezk Schalke aus dem Pokal.

Mach das Ding, Simon, dann sind wir die letzte deutsche Mannschaft im Wettbewerb – als Zweitligist. Und wir würden noch einmal eine etwas spannendere Tour machen als diese hier ins unmittelbare Nachbarland.

Wir hatten Reykjavik gesehen, Sevilla genossen und in Athen sagenhaft gewonnen. Für diese Runde wäre unter anderem Newcastle United im Topf gewesen, aber man loste uns eben AZ Alkmaar zu – nicht einmal vier Stunden mit dem Bus von Aachen entfernt gelegen. Ungefähr jeder dritte mitreisende Fan war hier in der Nähe schon mindestens einmal in Urlaub. Jetzt aber winkte Donezk.
Donezk winkte auch noch, als Simons Schlenzer ins kurze Eck misslang. Alkmaar brauchte schließlich immer noch zwei Kisten, um weiterzukommen. Wir mussten nicht lange warten, bis das Zittern begann: Ein paar Minuten nach der vergebenen Chance fiel der Ausgleich. Noch einmal zehn Minuten später flog Thomas Stehle mit Gelb-Rot vom Platz – unberechtigt, wie sich alle Schwarz-Gelben heute noch sicher sind.
Natürlich kam, was irgendwie kommen musste. Unsere zehn verbliebenen Spieler warfen sich den Angriffen der Hausherren mit allem entgegen, was sie hatten. Das 2:1 fiel trotzdem. Und weil unsere verzweifelten Versuche, eine passende Antwort zu geben, am Ende erfolglos verpufften, war die Europapokalmesse 2004/2005 für die Alemannia gelesen. Kein Donezk für uns.

Mit dem Schlusspfiff endete das durchgeknallteste Jahr meines Daseins als Alemanniafan. »Ein Jahr auf Speed«, nannten wir die Zeit in der darauf folgenden Ausgabe von »In der Pratsch«. Auch wenn dieses Jahr, das mit dem Sieg im Pokal gegen die Bayern begann, mit dem Sieg gegen Gladbach und dem Pokalfinale weiterging und das uns so bis nach Europa führte, endgültig vorbei war. Es hinterließ Gesprächsstoff, der bis zum heutigen Tag reicht.
Großes haben wir in dieser Zeit erlebt. Großartig haben sich unsere Jungs gegen Gegner geschlagen, die auf dem Papier haushoch überlegen waren. Für ein paar Wochen sprach man in Europa voller Respekt über unser Team und uns Fans. Und auch wenn ich Simon Rolfes noch manchmal auf uns zulaufen sehe, den Ball am Fuß, die Entscheidung auf dem Schlappen, hadere ich nicht mit dem Ausscheiden damals in Alkmaar. Auch wenn ich schon gerne nach Donezk gefahren wäre.
(Die Frage, wieviel so eine Tour in die Ukraine wohl kostet, ist mir nie beantwortet worden. Der Bankberater meines Vertrauens meinte aber, das Ausscheiden sei aus Sicht meines Kontos nicht so schlecht gewesen.)
Heute vor genau zehn Jahren spielte meine Alemannia bei AZ Alkmaar und schied aus dem Europapokal aus. Weil ich den Beginn unserer Europatour zu dessen Zehnjährigem im vergangenen September schon thematisiert hatte, hielt ich es für eine gute Idee, das auch mit deren Ende zu tun. Eine Zusammenfassung des Spiels in bewegten Bildern (allerdings ohne die Rolfes-Chance) findet sich drüben auf der Facebook-Seite der »Traditionsretter«.
Wie beim Großteil aller Europapokaltouren jener Zeit war auch in Alkmaar der Fotograf, Fußball-Enthusiast und Pratsch-Kollege Carl Brunn mit von der Partie. Einige der Bilder, die er an diesem Tag schoss, hat er mir freundlicherweise für diesen Artikel zur Verfügung gestellt.