Kurz nach dem sonntäglichen Mittagessen klopfte es an der Haustür. Mit Besuch hatte ich nicht gerechnet. Erst recht nicht mit der Kettenreaktion, die ich durch das Öffnen der Tür lostreten sollte. Knapp vier Stunden später würde eine zum Bersten gefüllte irische Kneipe Schlachtrufe für Alemannia Aachen anstimmen. Mit mir als Chorleiter. Im Hier und Jetzt öffnete ich aber zunächst einmal nur die Haustür. Draußen stand Michael.
Einen Tag nach unserer Ankunft am Urlaubsort hatten er und seine Frau Kitty uns die viel gepriesene irische Gastfreundschaft zukommen lassen. Zu Tee und Gebäck hatten uns die beiden in ihr Haus in der Nachbarschaft unseres Feriendomizils eingeladen. Nachmittags hatten wir also um den gemütlich bollernden Ofen in der Küche gesessen, Kittys großartiges Shortbread gegessen und miteinander geredet – über Gott, die Welt und allerlei andere Dinge.
Recht bald waren wir auf den Trichter gekommen, dass Michael und ich eine große Leidenschaft miteinander teilen: die für den Fußball. Und so hatten wir beide über Flanken aus vollem Lauf gequatscht, die Unsitte der Schwalbe verdammt und zusammen ein Loblied auf den Mannschaftsgeist gesungen, der so viel mehr wert ist als individuelle Fähigkeiten am Ball. Ich hatte Michael meine Schwäche für Blutgrätschen und fulminante Fernschüsse gestanden. Im Gegenzug hatte er aus seiner aktiven Zeit in Englands höchster Amateurspielklasse erzählt, damals, Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre. Im Eifer des Gesprächs war aus dem Anstandsbesuch eine fast abendfüllende Veranstaltung geworden.
Irlands schottische Nationalmannschaft
Zwei Tage waren seitdem vergangen. Nun stand Michael also vor der Haustür, um die nächste Stufe unserer noch jungen Fußballfreundschaft zu zünden. »In einem Pub im Nachbarort wird gleich das Spiel von Celtic live gezeigt. Möchtest Du mitkommen?« Drei Minuten später saß ich auf dem Beifahrersitz von Michaels Ford, der gerade das Ortsausgangsschild von Maghery passierte.
Entlang des kleinen Meeresarmes folgten wir der Landstraße in Richtung Dungloe. Zielstrebig steuerte Michael das »Bay View« an, einen der sechs Pubs, die die Hauptstraße der Kleinstadt säumen. Bei unserer Ankunft herrschte in dessen Innerem gähnende Leere. Doch das sollte sich schon bald ändern. Mit und mit strömte nahezu die komplette männliche Bewohnerschaft von Dungloe in die Kneipe, um zu schauen, was Celtic wohl bei Dunfermline Athletic veranstalten würde. Während wir in bester Früher-Vogel-Manier noch quasi einen Logenplatz erwischt hatten, waren die Stühle vor der Leinwand schon bald Mangelware. Eine halbe Stunde vor dem Anpfiff war der Laden proppenvoll.
Von irischen Auswanderern in Glasgow gegründet, übernimmt Celtic seit jeher die Rolle der irischen Nationalmannschaft, wenn gerade kein Länderspiel stattfindet. Im Lauf der Zeit habe ich eine ganze Reihe fußballbegeisterter Iren kennen gelernt. Und jeder einzelne von ihnen bezeichnete die Grün-Weißen aus Glasgow als »seinen Verein«, dem er die Daumen drückt, mit dem er feiert und manchmal auch leidet.
Wie einst die Titanic
Die ersten Spiele der Saison hatten eher dem Mitleiden Tür und Tor geöffnet. Unter dem neuen Trainer Gordon Strachan, in der Sommerpause vom FC Southampton gekommen, hatte Celtic nicht gerade einen Traumstart hingelegt. Relativ enttäuschend hatte das Team in der Vorwoche das Old Firm bei den Rangers mit 3:1 verloren. Zudem hatten sich die Hearts of Midlothian nach den ersten Spieltagen in der Tabelle schon ein wenig absetzen können. Verlorenes Derby, verlorener Boden: Es gab einiges gutzumachen. Und am besten sollte gleich in Dunfermline damit angefangen werden.
Welche Maßnahmen müsste der Trainer ergreifen? Müsste taktisch umgestellt werden? Brauchen einige der Spieler eventuell kreative Pausen? Während die Uhrzeiger langsam in Richtung Spielbeginn krabbelten, wälzte die versammelte Expertenschaft Fragen wie diese. Wie überall auf der Welt präsentierten 25 Leute ungefähr 26 Meinungen, um sich kurz vor dem Anpfiff darauf zu einigen, dass die Wahrheit wohl auf dem Platz liege.
Auf der Leinwand machten sich bereits die Spieler zum Kick-Off bereit. Als der Trainer in Großaufnahme eingeblendet wurde, quetschte einer der Dorfältesten noch eine letzte Frage durch seine Zahnlücken: »What do Strachan and the Titanic have in common?« Eine Runde kollektives Achselzucken später gab er auch gleich die Antwort: »Both should have never left Southampton.« Der Rest war schallendes Gelächter und das wohlige Gefühl, hier einen ganzen Laden voller Gleichgesinnter gefunden zu haben. Die eigene Mannschaft kann eigentlich niemals schlecht genug spielen, dass einem ein Witzchen darüber im Hals stecken bliebe. Selbstironie als Selbstschutz: Als Fan der Alemannia kann ich davon ein Liedchen singen.
Ernüchterndes aus der Ferne
Was Celtic-Fans an diesem Tag allerdings definitiv nicht brauchten, war ironischer Selbstschutz. Vom Anpfiff weg waren die Rollen klar verteilt: Celtic saß auf dem Fahrersitz, Dunfermline kam nicht einmal in die Nähe des Lenkrads. Nach gerade einmal zehn Minuten schon 2:0 führend, schalteten die Grün-Weißen einen Gang zurück, ohne dadurch in Gefahr zu geraten. Zu überfordert schien ihr Gegner. Ganz anders der Wirt des »Bay View«, der beim Befüllen leerer Gläser wahre Wunderdinge vollbrachte. Alleine hinter dem Tresen stemmte er sich gegen die scheinbare Übermacht seiner durstigen Gäste. Dass er es schaffte, niemanden in seinem rappelvollen Pub länger als eine Minute auf flüssigen Nachschlag warten zu lassen, gehört zu den herausragendsten Leistungen, die ich in dieser ersten Halbzeit gesehen habe.
Spiel und Bier liefen, die Stimmung im Laden stieg minütlich. Langsam war für mich die Zeit gekommen, mich um eine Partie zu kümmern, die zeitgleich rund 2.000 Kilometer weiter südlich über die Bühne ging. In der Zweiten Bundesliga war Alemannia Aachen bei der Spielvereinigung Unterhaching zu Gast. Und wie immer, wenn einer von uns beiden ein Spiel der Alemannia nicht selbst verfolgen konnte, gab es auch an diesem Tag einen geschwisterlichen SMS-Live-Ticker. Mein Bruder hielt mich mit kurzen Botschaften über das Geschehen vor den Toren Münchens auf dem Laufenden. Was er schrieb, las sich ernüchternd. Die Schwarz-Gelben bekamen kein Bein an die Erde. Quasi mit dem Halbzeitpfiff ging Unterhaching in Führung. Als kurz darauf auch auf der Leinwand im Pub zur Pause gepfiffen wurde, strömte die Meute hinaus auf den Hof. Michael und ich strömten mit.
»Warum schaust Du eigentlich ständig auf Dein Mobile?«
Draußen bildete sich im Nu eine kleine Menschentraube um uns. Dungloe’s Fußballfreunde wollten mehr über das Gesicht wissen, das sie noch nie zuvor gesehen hatten. »Wer bist Du?« »Woher kommst Du?« »Magst Du Celtic?« »Gute erste Halbzeit, oder?« Ein paar Antworten später steckte ich auch schon mitten in einem Gespräch über deutsche Tugenden, irische Leidenschaft und die Europameisterschaft 1988. Kurz vor dem Ende der Pause stellte mir einer der Umstehenden noch eine letzte Frage: »Warum schaust Du eigentlich ständig auf Dein Mobile?« Im Hineingehen erklärte ich kurz, was es damit auf sich hat. Lieblingsmannschaft, zweite Liga, Auswärtsspiel, Bruder, SMS, zur Halbzeit 1:0 hinten. Zwei oder drei Zuhörer nickten verständnisvoll. Pünktlich zum Wiederanpfiff saßen wir alle wieder auf unseren Plätzen.
Drehen, jubeln, singen
Celtic hatte sich in der Kabine offenbar vorgenommen, etwas mehr zu tun. Wie zu Beginn der Partie drängten sie ihren Gegner weit in dessen Hälfte zurück. Und wie schon vor der Pause wurden alle Aktionen auf der Leinwand von den Anwesenden lautstark begleitet. Ein Zwischenruf hier, eine witzige Bemerkung da, ein kurzer Gesang dort. Ungefähr zehn Minuten waren in der zweiten Halbzeit gespielt, als ein leises Summen meines Handys ankündigte, dass in Unterhaching etwas geschehen sein musste.
Als ich das Telefon vom Tisch hob, um nachzusehen, verstummte das komplette »Bay View«. Alle Köpfe drehten sich in meine Richtung. »What’s the score?«, riefen einige. Nach einem Blick auf das Display gab ich die Antwort: »1:1. Schlaudraff scored.« Die Nennung des Torschützen ging schon in kollektivem Jubel unter. Wahrscheinlich kannte ohnehin niemand in Dungloe Jan Schlaudraff. Aber jeder einzelne kannte dieses Gefühl, das ein Tor Deines Teams in Dir verursacht. Und sie teilten es ausgiebig mit mir.
Von da an war es, als liefen im »Bay View« zwei Spiele gleichzeitig. Eins auf der Leinwand, eins auf meinem Telefon. Jede neue Nachricht meines Bruders musste ich laut vorlesen. Immer noch stand es in Haching unentschieden, vor allem aber stand das Spiel Spitz auf Knopf. Großchancen hüben wie drüben, alle begleitet von Jubel (»Nicht hält gefährlichen Konter.«) oder Raunen (»Schlaudraff scheitert an Heerwagen.«). Eine gute Viertelstunde vor Spielende, Celtic führte mittlerweile 4:0, kam die erlösende SMS: »Rösler nach Vorarbeit Reghecampf. 2:1!« Wir hatten das Spiel gedreht. Und der Pub flippte aus.
»We love you Aachen, we do«, sang der gesamte Laden, während der Wirt in Windeseile eine Saalrunde zapfte. Mit einem gemeinsamen »Come on Aachen« ging es in die Schlussviertelstunde. Ein Hachinger und Cristian Fiel flogen vom Platz, zwischendurch wurde es noch einmal eng, aber am Ende stand der Auswärtssieg. Ein nicht ganz so lässiger Auswärtssieg, wie ihn Celtic auf der Leinwand eingefahren hatte.
Nach den beiden Schlusspfiffen wurde noch ein Viertelstündchen gejubelt, gehüpft und gesungen, ehe sich das »Bay View« peu à peu leerte. Jeder einzelne Besucher flanierte auf dem Weg nach draußen an unserem Tisch vorbei, um einen Schulterklopfer oder einen kurzen Gruß dazulassen. »All the best to you, Christoph. And good luck to Aachen.« Zuguterletzt machten auch wir uns auf den Heimweg. Während er uns entlang des kleinen Meeresarmes zurück nach Maghery fuhr, zog Michael breit grinsend ein Fazit: »Von dem Nachmittag werden die Leute in Dungloe noch lange Zeit erzählen.« »Ich auch«, sagte ich. »Ich auch.«
Tatsächlich habe ich von diesem Nachmittag in den Jahren seither etliche Male erzählt. »Das musst Du unbedingt mal aufschreiben«, habe ich in solchen Gesprächen häufig gehört. Jetzt bin ich endlich mal dazu gekommen.
Herz erfrischend diese Geschichte.
1. Fußball ist Völkerverständigung pur
2. wehmütige Erinnerung an bessere Zeiten der Alemannia