Aber hier leben…

Löhrzeichen

Der fol­gen­de Text ist schon ein wenig älter. Geschrie­ben habe ich ihn im Okto­ber 2010. Aus­lö­ser war ein Vor­mit­tag in mei­nem Geburts­ort, der sich seit mei­ner Kind­heit nicht unbe­dingt zu sei­nem Vor­teil ver­än­dert hat. Ähn­li­che Erleb­nis­se mit ande­ren Orten haben mich in der jüngs­ten Ver­gan­gen­heit häu­fi­ger an die­sen Text den­ken las­sen. Dar­um habe ich ihn jetzt noch ein­mal rausgekramt.

Mor­gens, halb Zehn in Deutsch­land. Ein Ter­min in einer Auto­werk­statt hat mich in mei­nen Geburts­ort ver­schla­gen. Sonst immer in Boxen­stopp­ma­nier durch­ge­zo­gen, soll das Schrau­ben dies­mal etwas län­ger dau­ern. »Min­des­tens drei Stun­den«, schätzt der Meis­ter. Im Ver­lauf der letz­ten Jah­re bin ich nie­mals mehr als ein paar Minu­ten hier gewe­sen. Ich nut­ze die frei gewor­de­ne Zeit, um durch die Stra­ßen zu schlen­dern, und wer­de eis­kalt erwischt. In mei­nen Kind­heits­er­in­ne­run­gen bunt und leben­dig, wirkt die Klein­stadt jetzt grau und ver­härmt. Ein trost­lo­ser Vor­mit­tag in drei Begegnungen.

»Was wol­len Sie?« Ungläu­big schaut mich die Frau hin­ter dem Tre­sen an. Auf einen Schlag herrscht Stil­le im Schreib­wa­ren­la­den. Der ein­zig ande­re Kun­de hat auf­ge­hört, in der Fern­seh­zeit­schrift zu blät­tern. Er mus­tert mich miss­trau­isch von der Sei­te. Für einen Moment habe ich das Gefühl, gera­de etwas sehr unan­stän­di­ges getan zu haben. Nur zöger­lich wie­der­ho­le ich mein Anlie­gen: »Die Süd­deut­sche Zei­tung, bit­te.« »Haben wir nicht«, bellt mir die Frau ent­ge­gen und stemmt bei­de Hän­de in die Hüf­ten. »Da hat hier auch noch nie jemand nach gefragt. Darf es sonst noch etwas sein?« »Einen Abschieds­gruß hät­te ich schon genom­men«, den­ke ich, wäh­rend hin­ter mir die Tür Glöck­chen bim­melnd ins Schloss fällt. Zwei Kios­ke spä­ter bin ich noch kei­nen Deut wei­ter­ge­kom­men. Weder auf mei­ner Suche nach der SZ, noch in Sachen Abschiedsgruß.

»Gut, dass Sie heu­te vor­bei­kom­men«, lächelt mich die Bedie­nung an der Kas­se des Buch­la­dens an. Eine Erklä­rung lässt sie gleich fol­gen: »Mor­gen machen wir näm­lich zu. Für immer.« Damit ist das Geschäft in guter Gesell­schaft. In nahe­zu jedem zwei­ten Laden­lo­kal hängt ein Schild im Fens­ter. »Zu ver­mie­ten«, steht drauf. Oder »zu ver­kau­fen«. Bei den Wohn­häu­sern sieht es nicht viel bes­ser aus. Ich habe von der zuneh­men­den Land­flucht gele­sen. Hier sehe ich sie erst­mals live und in Far­be. Oder was von der Far­be übrig geblie­ben ist. Nur weni­ge Pas­san­ten fla­nie­ren über die Bür­ger­stei­ge. Alle sind im Ren­ten­al­ter. »Die jun­gen Leu­te zie­hen in die Stadt«, gibt mir einer von ihnen auf Nach­fra­ge die erwar­te­te Ant­wort. »Hier blei­ben nur die wenigs­ten.« Was soll ich sagen? Ich bin auch nicht geblieben.

»Du bist nicht von hier, oder?« Mela­nie ist die ers­te, die die­se Fra­ge auch aus­spricht. In dem klei­nen Steh­ca­fé am Neben­tisch leh­nend, ist sie zudem der ers­te Mensch heu­te, der in etwa so alt ist wie ich. Wil­fried am drit­ten Tisch im Raum könn­te auch in unse­rem Alter sein. Män­ner mit Ober­lip­pen­bart sind schwer zu schät­zen. »Irgend­wie schon«, erwi­de­re ich und zei­ge durchs Fens­ter auf die gegen­über­lie­gen­de Stra­ßen­sei­te. »Dort im Kran­ken­haus bin ich gebo­ren wor­den. Hier gewe­sen bin ich aber seit Jah­ren nicht mehr.« Wis­sen­des Nicken heißt mich in der Run­de will­kom­men. Mela­nie und Wil­fried geht es ähn­lich. Gemein­sam wen­den wir uns dem Mann hin­ter der The­ke zu. Her­bert erzählt, wie er sein Café­chen vor drei­zehn Jah­ren eröff­net hat und dass sich seit­dem vie­les im Ort ver­än­dert hat. Nichts zum Guten. Die Stamm­kund­schaft brö­selt. Her­bert hält trotz­dem durch. Ich nicht. Mein Han­dy klin­gelt. Das Auto ist fertig.

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