Am kommenden Wochenende geht in Aachen eine Ära zu Ende. Nach über 19 Jahren macht der Musikclub Aoxomoxoa die Türen für immer zu. Von Donnerstag bis Montag wird es noch einmal ordentlich Programm geben, dann ist endgültig Feierabend. Im Januar-Klenkes hatte ich ein paar Worte zum Abschied geschrieben, die ihren Weg mittlerweile auch auf die Webseite des Magazins gefunden haben.
Und hier bietet sich derweil quasi die allerletzte Gelegenheit, einen Text loszuwerden, der schon ein paar Jährchen auf dem Buckel hat. Im Oktober 2003 – Blogs standen als Publikationsmedium (zumindest für mich) noch nicht zur Debatte – habe ich ein Erlebnis im Aoxomoxoa schriftlich verarbeitet und seinerzeit unter ausgewählten Empfängern per Mail verteilt. Neulich habe ich das Dokument auf einer alten Festplatte wiedergefunden. Hier ist es:
»Verdammt, das ist kein Traum!« Ich komme zu mir, bin wohl schon eine Stunde hier. Ich lehne an der Theke, mein Mund will sich nicht schließen und die Cola hat langsam Handtemperatur angenommen. »Wie zum Teufel sind wir hier reingeraten?«
Also, kurz mal zurückgespult: Im Grunde ist es ein ganz normaler Abend am Ende eines ganz normalen Tages. Guido und ich haben zwei kleine Getränke in einer stinknormalen Kneipe genommen. Und irgendwie kann das nicht alles gewesen sein. Zum Glück hat man mit Ende Zwanzig die Mechanismen der Abendunterhaltung verstanden und weiß, wie man die entsprechenden Medien zu Rate zu ziehen hat. Was also läge da näher als das Studium des Lokalblättchens, im Speziellen des Veranstaltungskalenders? Schön, dass die heutzutage die Musikrichtungen dazu schreiben. Erinnerungen an schreckliche Abende in unansehnlichen Clubs mit fürchterlicher Musik, nur weil der Name des »Events« irgendwie nach Punk klang, lassen mich und meine Altersgenossen noch heute erschaudern. Aber dieses Russisch Roulette gehört jetzt ganz offensichtlich der Vergangenheit an.
Und da haben wir es ja auch schon: »Alternative und Metal« wird im Aox gegeben. »Metal? Ach, wenn da Alternative neben steht, wird das maximal Pantera oder Tool sein.« Letzte Zweifel sind schnell weggewischt, die Deckel werden bezahlt und ab in die Kälte. Aachen erwartet uns. Die Wege sind kurz und schon sind wir da. In ein Gespräch vertieft betreten wir den Laden, kein Türsteher, kein Eintritt. Netter Zug, freitags muss man hier immer die große Gesichtskontrolle über sich ergehen lassen.
Aber was ist das? Zeitgleich erstarren wir. Wir haben nicht einfach einen Raum betreten, irgendwer muss den Fluxkompensator aktiviert haben. Willkommen im Mittelalter, die Tafelrunde bittet zur Polonaise. Projektoren werfen seltsame Bilder von Rittergräbern und Frauen ohne Gesicht an die Wände. Longsleeves regieren das Bild. Schade, dass bei allen die Rückenansicht von Haaren bedeckt ist. Denn mit dem, was es hier zu lesen gibt, wäre ich der König, wenn es demnächst wieder heißt: »Wer kommt auf die bescheuertsten Bandnamen?« Die Jungens haben sich an den Schultern des Vordermannes festgekrallt und hüpfen zu Klängen einer Tapping-Orgie im Kreis über die Tanzfläche. In der Mitte steht ein Typ Marke Aragorn und spielt eine fiktive Gitarre zu Tode. Und hey, da sind ja auch die Ewoks, endlich noch mal in Original‑, Komplett- und somit Bestbesetzung. Aha, man trägt also derzeit Burgfräuleindesign auf Endor.
Ich gucke Guido an, er wirkt ähnlich schockiert wie ich mich fühle. Aber irgendwas saugt uns an die Theke. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo zwischen »Wenn wir jetzt schon mal hier sind, trinken wir auch was.«, »Weglaufen ist feige.« und »Na ja, zu Hause ist die Heizung kaputt.« Eine Cola und ein Wasser werden über die Theke gereicht. Kein Alkohol jetzt, klares Bewusstsein ist gefragt, hier schlummern Anekdoten, die erzählt werden wollen.
Bei der Entgegennahme des Wechselgeldes verhindern wir nur knapp schwere Schnittverletzungen durch die Nietenarmbänder der Thekenkraft. »Hängt dieses Preisschild auch freitags hier?« »Honig-Met 3,50 €? Ich glaub nicht.« Pfui, die Barbaren trinken dieses Göttergetränk aus der Flasche. Hörner waren wohl aus bei Xenos diese Woche, der Laden ist zunehmend schlecht sortiert. Und schon naht das erste Highlight der Nacht.
Aus den Boxen ertönt eine Fanfare, fünf Waldläufer folgen dem Ruf der Herolde auf die Tanzfläche. Ein Kreis wird gebildet, alle das Gesicht nach außen. Sich langsam im Uhrzeigersinn drehend wird nun dem Mosh-Gott ein Opfertanz dargeboten. Vergeblich warten wir auf die abschließende Hinrichtung der Gruppe. Was ist nur aus dem guten, alten Brauch des Ritualmordes geworden? Doch keine Zeit, den guten alten Tagen hinterherzutrauern. Die nächste Tanzgruppe macht sich bereit, ähnlicher Habitus, andere Formation und noch eine und noch eine und …
… plötzlich ist eine Stunde rum. Getrunken haben wir nicht viel, geredet noch weniger. Gehört dafür umso mehr, von Drachen und deren Tötung, von Rittern und ihren Reisen, von der Rebellion gegen den Prinzen der Dunkelheit und irgendwann bestand einer der Sänger darauf, unser aller Meister und Herr zu sein. Gegenargumente fielen uns auf die Schnelle nicht ein. Noch immer wird jeder Liedanfang von der Meute mit freudigem Grunzen quittiert, man zeigt sich textsicher.
Bei einem der obligatorischen »Endlos alle Skalen rauf und runter«-Gitarrensoli fällt mir plötzlich ein Zitat ein, dessen Urheber mir leider nicht mehr präsent ist. »Tapping ist doch Wichserei. Und wenn Du wichsen willst, nimm Dein Ding in die Hand, nicht die Gitarre.« Mein Vorschlag, diese Aufforderung kurz vor unserer Flucht im Raum stehen zu lassen, findet bei Guido nicht so den Anklang. Irgendwie hat er ja auch Recht, dass der Weg zur Tür dafür zu weit sei. Seine Ergänzung, dass man ja nicht wisse, wie gut diese Typen im Halbdunkeln mit Pfeil und Bogen umgehen können, überzeugt mich dann endgültig.
Gehen wir also lieber auf leisen Sohlen. Nur kein Aufsehen erregen, gemustert worden sind wir auch so schon genug, von der gesamten Gesellschaft, in immer kürzer werdenden Abständen. Horrorszenarien spielen sich vor unseren inneren Augen ab. Die Türen sind bestimmt längst abgeschlossen, diese Alternative-Ergänzung im Klenkes war bestimmt nur dazu gedacht, Typen wie uns nach hier zu locken. Und gleich öffnet sich eine Geheimtür da hinten neben dem Kicker. Diese Woche sind wahrscheinlich wir das alldienstägliche Opfer an »Eddy«, oder wie auch immer das Monster aus vergangenen Tagen hinter dieser Tür heißt.
Huch, haben wir uns gerade wirklich diese Variante zusammengesponnen? Jetzt wird es aber Zeit, dieser Sagenscheiß kriecht einem ja schneller in den Kopf als man meint. Ein kurzer Gruß in die Runde, schon sind wir durch die erste Tür. Kurz vor ihrem Schließen vernehmen wir die ersten Klänge eines Tool-Liedes. Ja, wollen die uns verarschen, oder was? »Wieder reingehen?« »Nee, lass mal, am Ende ist das der letzte Versuch, uns in Eddy’s Napf zu locken.«
Die Außentür finden wir unverschlossen, die Straße hat uns wieder und alles klar, da vorne steht ein Auto. Das Mittelalter ist überstanden. In einer kurzen Analyse sind wir uns einig, dass wir in den nächsten Wochen nachsichtiger auf Partys sein werden, wenn mal ein schlechtes Lied läuft. Aber was ist das? Ein Einhorn? Ein Drache?
Ach so, die Auslage des Comic-Ladens um die Ecke macht sich schon mal fantasytauglich für den dritten Teil vom Herrn der Ringe. An meiner Haustür trennen sich unsere Wege. »Soll ich Dir noch schnell mein Schwert runterholen für den Rest des Weges? Man kann ja nie wissen!«
Dieser Abend war der wahrscheinlich skurrilste, den ich im Aoxomoxoa erlebt habe. Weil ich einige Jahre lang direkt um die Ecke wohnte, habe ich etliche Partys mit etlichen Musikstilen – von Brit Pop bis Acid Jazz, von Indie bis Northern Soul – dort mitgenommen. Es ist schon schade, dass der Laden jetzt dichtmacht.
Das Bild dort oben wurde mir freundlicherweise von Stephan zur Verfügung gestellt. Gerade erst vor ein paar Tagen aufgenommen, passt es nicht hundertprozentig zu der kleinen Geschichte. Das trifft schon eher auf das Foto hinter diesem Link zu.