Daumen rauf statt Daumen drauf

Löhrzeichen

Mensch, der Jür­gen, der ist ein Macher. Das sagen ziem­lich alle, die schon ein­mal beruf­lich mit ihm zu tun hat­ten. In Wer­bung macht der Jür­gen, mit sei­ner eige­nen Agen­tur sogar. »Ich bin selb­stän­dig«, erklärt er. »Das bedeu­tet selbst und stän­dig«, wit­zelt er. Weil er das aber im Grun­de völ­lig ernst meint, geht alles, was in sei­ner Agen­tur ent­steht, min­des­tens ein­mal über sei­nen Schreib­tisch: Jeden Text will Jür­gen sehen, jeden Slo­gan, jedes Lay­out, jede Web­site. Wäh­rend er die jewei­li­gen Ent­wür­fe in ihre Ein­zel­tei­le zer­legt und neu zusam­men­setzt, wird es nicht sel­ten laut in sei­nem Büro. Wenn die Sachen sei­nen Tisch dann wie­der ver­las­sen, sind sie nach sei­ner Auf­fas­sung per­fekt. Und der­je­ni­ge, der dafür ursprüng­lich zustän­dig war, fühlt sich schon wie­der so klein mit Hut. Ja, der Jür­gen hat ech­te Füh­rungs­qua­li­tä­ten, aber bei ihm arbei­ten wür­de ich nicht. Auch das sagen ziem­lich alle, die schon ein­mal beruf­lich mit ihm zu tun hatten.

Zucht und Ord­nung, Kon­trol­le und Kom­man­do, har­te Hand und kla­re Kan­te: Es wirkt ein wenig aus der Zeit gefal­len, doch auch im Jahr 2013 wer­den der­lei Attri­bu­te noch viel­fach mit Füh­rungs­qua­li­tät asso­zi­iert. Dabei beschäf­ti­gen sich etli­che Psy­cho­lo­gen und Sozio­lo­gen seit lan­gem mit der Fra­ge, wie der Füh­rungs­be­griff in der Gegen­wart neu gedacht wer­den könn­te. Kann man Füh­rung viel­leicht sogar kom­plett abschaf­fen? Auf der Suche nach einer Ant­wort hat sich der eine oder ande­re For­scher in der Tier­welt umge­tan, hat Leit­wöl­fe und Alpha­männ­chen beob­ach­tet, Amei­sen und Bie­nen auf­ge­scheucht, das Schwarm­ver­hal­ten von Zug­vö­geln unter­sucht oder Füch­se – nein, Füch­se nicht. Die sind näm­lich gar kei­ne Rudel­tie­re.

Wie­der­um ande­re haben eine Grup­pe von Men­schen mit der Anwei­sung in eine Turn­hal­le gestellt, ein­fach wild durch­ein­an­der zu lau­fen. Spä­tes­tens nach fünf Minu­ten gin­gen die meis­ten Grup­pen hin­ter­ein­an­der im Kreis. Am Ende kommt ein Groß­teil sol­cher Unter­su­chun­gen zum glei­chen Ergeb­nis: Lebe­we­sen im All­ge­mei­nen und Men­schen im Spe­zi­el­len suchen Ori­en­tie­rung und Kon­for­mi­tät. Ganz ohne Füh­rung geht es dem­nach nicht. Aller­dings spricht nichts dage­gen, sie von Kaser­nen­ton und »Ver­trau­en ist gut, Kon­trol­le ist besser«-Mentalität zu befreien.

Schon vor Jahr­zehn­ten wur­den in die­sem Sin­ne neue Füh­rungs­mo­del­le ent­wi­ckelt, etwa das der Trans­ak­tio­na­len Füh­rung, das erst­mals Ende der 1970er Jah­re for­mu­liert wur­de: Eine trans­ak­tio­nal agie­ren­de Füh­rungs­per­son erkennt die Bedürf­nis­se und Moti­ve ihrer Mit­ar­bei­ter und belohnt die­se dafür, dass sie Ziel­ver­ein­ba­run­gen ein­hal­ten und die erwar­te­te Leis­tung erbrin­gen. Dau­men rauf statt Dau­men drauf, lau­tet die Devi­se. Noch eine Ecke wei­ter geht die dar­auf auf­bau­en­de Trans­for­ma­tio­na­le Füh­rung, bei der es Füh­rungs­kräf­te ver­ste­hen, Begeis­te­rung zu erzeu­gen, ande­re mit­zu­rei­ßen und bei ihren Mit­ar­bei­tern ein Gefühl der Wert­schät­zung zu erzeu­gen. In der Gegen­wart spre­chen Exper­ten zudem viel­fach von der mode­rie­ren­den Füh­rungs­kraft, die sich selbst zurück­nimmt, bei­zei­ten aus dem Weg geht und Betei­li­gung ermög­licht, um schlum­mern­de Poten­zia­le zu wecken und nutz­bar zu machen.

Natür­lich geht gera­de die letz­te Idee von Füh­rung für die Füh­rungs­per­son selbst mit Kon­troll­ver­lust ein­her. Aber viel­leicht ist Ver­trau­en ohne­hin der bes­se­re Weg. Eine zusätz­li­che Moti­va­ti­on durch Anschrei­en oder Rund­ma­chen brau­chen mode­rie­rend geführ­te Mit­ar­bei­ter jeden­falls nicht. Aber war­um eigent­lich nur Mit­ar­bei­ter? Ein wert­schät­zen­des, ver­trau­ens­vol­les Mit­ein­an­der funk­tio­niert auch im Pri­va­ten – tschüss, Fami­li­en­de­spot – oder im Sport­ver­ein – adiós, cho­le­ri­scher Trai­ner. Und wenn es ihnen irgend­wann ein­mal jemand erzählt, könn­ten auch die Jür­gens die­ser Welt davon profitieren.

»Schreib doch mal was zum The­ma Füh­rung«, hat die NEO-Redak­ti­on zu mir gesagt. Das habe ich dann gemacht. Übri­gens heißt Jür­gen im ech­ten Leben gar nicht Jür­gen. Weil das Ziel die­ses Tex­tes nicht dar­in bestand, irgend­je­man­den bloß zu stel­len, habe ich sei­nen Namen verändert.

Hinterlasse einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Benötigte Felder sind mit einem * markiert …