Da hat Mehmet Scholl nach dem Viertelfinale Brasilien gegen Kolumbien aber mal mächtig Dampf abgelassen. Die Direktive der FIFA an die WM-Schiedsrichter, Fouls großzügiger zu bewerten und dabei mit möglichst wenig Karten auszukommen, sei der Untergang des Fußballs. Ich bin da schon irgendwie seiner Meinung, auch wenn ich seiner Begründung nicht ganz folgen kann. Fast jedes Spiel der Weltmeisterschaft habe ich gesehen, eine Häufung von Situationen, in denen kleine, wendige, kreative Spieler »gejagt, zerstört und gedemütigt« – so Scholl – werden, ist mir dabei nicht aufgefallen. (Vielleicht bin ich durch vermehrten Konsum unterklassigen Fußballs in der Hinsicht aber auch ein wenig abgestumpft.)
Sehr wohl gehäuft haben sich nach meiner Auffassung hingegen taktische Fouls, Diskussionen und Abwinken nach Schiedsrichterentscheidungen sowie das unsägliche Fordern von Karten für den Gegenspieler. Diesen kleinen Nickligkeiten, dem Zupfen am Trikot und dem fehlenden Respekt gegenüber Schiri und Gegner gehört definitiv wieder ein Riegel vorgeschoben – in Form von gelben Karten, wenn es sein muss, auch früh im Spiel. In der gestrigen Partie zwischen Brasilien gegen Kolumbien gab es in 90 Minuten sage und schreibe 54 Fouls.
Gut, das meiste davon war Kleinkram, trotzdem kommt bei einer Quote von einem Foul auf weniger als zwei Minuten kein Spielfluss auf. Und garantiert auch kein schöner Fußball. In diesem einen Punkt gebe ich Mehmet Scholl also absolut Recht: Um den Spaß am Sport für Spieler und Zuschauer gleichermaßen zu erhalten, muss die FIFA-Direktive so bald wie möglich gekippt werden. Gerne noch vor den verbleibenden beiden Viertelfinals am heutigen Samstag.
Es war aber auch nicht alles Kleinkram gestern. Das Foul an Neymar kurz vor Spielende bewegt mindestens die halbe Welt. Ich weiß nicht, wie viele Kommentare ich heute Vormittag in diversen Social Media Kanälen gelesen habe, die Juan Zúñiga einen als Foul getarnten Mordversuch vorwerfen. Keine Frage, das Foul war hart, die Verletzung ist eine Katastrophe. Und trotzdem möchte ich Zúñiga keinen Vorsatz unterstellen. Nachdem ich mir das Video einige Male angeschaut habe, halte ich das Ganze eher für einen Unfall mit furchtbaren Folgen.
Ein Eckball wird aus dem Strafraum Brasiliens geklärt. Zúñiga ist für das Sichern des Rückraums und somit für die Eroberung dieses Balles zuständig. Sein Team liegt hinten, die Zeit drängt, weswegen er sich im Sprint auf zum Ball macht. Die letzten paar Meter schaut er nur zum hoch in der Luft befindlichen Ball, er will ihn offenbar im Sprung annehmen und erst Sekundenbruchteile vor dem Zusammenstoß senkt sich sein Blick, so dass er Neymar sieht. Bereits in der Luft hängend, hat er keine Chance mehr zu bremsen und den Knall zu vermeiden. Dann macht es auch schon »Bumm«!
»Ja, aber er nimmt die Verletzung doch billigend in Kauf«, habe ich an etlichen Stellen gelesen. Aber tut man das nicht bei jedem Zweikampf, bei jedem Kopfballduell, im Grunde schon, wenn man sich vor dem Spiel die Fußballschuhe schnürt in dem Wissen, dass die kommenden neunzig Minuten Körperkontakt und Verletzungsrisiko für alle Beteiligten mit sich bringen? Das Knie, das Neymar trifft und verletzt, zieht Zúñiga nicht absichtlich hoch. Es ist Teil seines Bewegungsablaufs in dieser Situation. Ohnehin ist er mir – und wahrscheinlich einer Menge anderer Fußball-Vielkonsumenten – nicht als bösartiger Treter bekannt.
Diese Szene hat nichts mit späten gelben Karten oder Scholls Ansicht zu tun, dass die Kreativen auf dem Platz seit neuestem Freiwild sind. Sie wäre auch zustande gekommen, hätte Carballo vorher etliche Karten gezeigt. (Was dem Spiel wahrscheinlich sehr gut getan hätte.) Zúñiga wollte das Spiel schnell und nah am brasilianischen Sechzehner halten. Er hat hart und energisch durchgezogen und dabei einen anderen Spieler schwer verletzt – ganz unabhängig von dessen Status im Weltfußball. Er wird selbst am besten wissen, dass das eine riesige Scheiße ist. Ihn für das Foul aber jetzt zu verteufeln oder zum personifizierten Bösen des Fußballs zu erklären, halte ich für falsch.
Scholl sollte mal Collinas Erben hören – oder ihnen wenigstens auf twitter folgen (@CollinasErben). Ist doch bekannt seit zwei Podcastfolgen, dass die FIFA die Schiedsrichter zu späten Gelben Karten zwingt: collinas-erben.de
Ich gehe davon aus, dass Scholl von der Richtlinie mit den Gelben Karten weiß. Dass er mit ihr nichts anfangen kann, liegt wohl auch daran, dass er als Spieler selbst ein kleiner, wendiger und aus seiner Warte schützenswerter Kreativer war.