Marlene, Harry und Sellwerth sind »Die Einzigen«. Vielmehr waren sie das. In den 80er Jahren spielten die drei unter diesem Namen New Wave, bis eines Tages die Band zerbrach. Während Sellwerth sich mehr und mehr der Popmusik, dem Mainstream und den damit verbundenen kommerziellen Möglichkeiten zuwandte, verschrieb sich Marlene der elektronischen Avantgarde. Nach einem Studium der Komposition arbeitet sie sich sukzessive an die Umsetzung einer großen Idee heran: der menschliche Körper als ultimatives Musikinstrument.
Harry hingegen hat einen Strich unter sein musikalisches Schaffen geschaffen gezogen. Die Grenzen seiner Fähigkeiten am Bass genau vor Augen, hängte er sein Instrument mit dem Ende der Band an den Nagel, um sich als Erbe einer Seifenfabrik fortan in Bürgerlichkeit zu ergehen. Auf Sellwerths Beerdigung im Jahr 1990 trifft er erstmals Marlene wieder, die ihn als Frau und Künstlerin immer noch fasziniert. Ihre Radikalität fesselt ihn, ihre Kompromisslosigkeit inspiriert ihn, ihre Rücksichtslosigkeit treibt ihn zur Verzweiflung.
»Die Einzigen«: Genau wie die fiktive New Wave Band, die den Ausgangspunkt der gemeinsamen Geschichte von Harry Bieler und Marlene Krahl bildet, heißt auch der Roman, in dem eben diese Geschichte erzählt wird. Gleichermaßen klug wie unterhaltsam verfolgt Autor Norbert Niemann den Weg der beiden nach ihrer Wiederbegegnung. Über die Jahre hinweg bleibt er bis in die Gegenwart hinein an ihrer Seite. Wo sind sie hin, die elektrisierenden Tage der 80er? Was wurde aus den Unangepassten jener Zeit? Verändert Kunst die Gesellschaft oder läuft es tatsächlich andersherum? Fragen wie diese werden im jüngsten Werk des Ingeborg-Bachmann- und Clemens-Brentano-Preisträgers verhandelt.
Und dieses Werk ist im Grunde ein klassischer Künstlerroman, der gleichzeitig aufs Kraftvollste von Liebe und Scheitern erzählt, von entfesselten Märkten und der Vereinnahmung kultureller Ausdrucksformen durch Marketing-Fachleute, von der Kollision früherer Lebensentwürfe mit der Realität, vom Streben nach Verwirklichung und Wahrhaftigkeit, von Erfolg und seinen Folgen.
»Musik ist keine Sprache«, sagt Marlene Krahl an einer Stelle. Dieser Sprachlosigkeit Abhilfe zu schaffen – selbst das gelingt Norbert Niemann in »Die Einzigen« [Partnerlink]: Mit seinen Schilderungen verleiht er gerade zeitgenössisch elektronischer Musik eine bislang nicht gekannte Ausdrucksform. Er übersetzt Klang in geschriebenes Wort, ohne sich die üblichen Klischees oder Mechanismen anzueignen.
Beim Nachfühlen der Musik kommt Niemann sicherlich zugute, dass er in den 80er Jahren selbst Teil einer New Wave Band namens »Diebe der Nacht« war. »Es steckt sehr viel vom Anspruch, auch vom Dünkel, den wir damals hatten, im Selbstverständnis der Einzigen«, sagt er. »Diese Avantgarde-Attitüde, die gesellschaftskritische Geste, der Dekonstruktionsansatz.« Darüber hinaus hat er der Versuchung widerstanden, eigene Erlebnisse allzu tief in den Roman einzuflechten.
Da ist wenig Norbert Niemann in Harry, noch weniger gar in Marlene. Denn das ist, was ihn beim Schreiben interessiert: »Größtmöglicher Abstand, um so gut es geht den Scheuklappen des eigenen Ichs zu entkommen.« Nur so konnte dieser virtuose Roman entstehen.
Im Rahmen der diesjährigen Auflage des Literaturfestivals »Lit.Eifel« wird Norbert Niemann am kommenden Freitag, 12. Juni, im »ikob – Museum für zeitgenössische Kunst« in Eupen aus »Die Einzigen« lesen. Die Lesung beginnt um 20 Uhr.
Dieser Artikel erschien ursprünglich im »Grenzecho«, der deutschsprachigen Tageszeitung für Ostbelgien.
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