Norbert Niemann liest in Eupen: Liebe und entfesselte Märkte

Grenzecho 9. Juni 2015, Seite 17

Mar­le­ne, Har­ry und Sell­werth sind »Die Ein­zi­gen«. Viel­mehr waren sie das. In den 80er Jah­ren spiel­ten die drei unter die­sem Namen New Wave, bis eines Tages die Band zer­brach. Wäh­rend Sell­werth sich mehr und mehr der Pop­mu­sik, dem Main­stream und den damit ver­bun­de­nen kom­mer­zi­el­len Mög­lich­kei­ten zuwand­te, ver­schrieb sich Mar­le­ne der elek­tro­ni­schen Avant­gar­de. Nach einem Stu­di­um der Kom­po­si­ti­on arbei­tet sie sich suk­zes­si­ve an die Umset­zung einer gro­ßen Idee her­an: der mensch­li­che Kör­per als ulti­ma­ti­ves Musikinstrument.

Har­ry hin­ge­gen hat einen Strich unter sein musi­ka­li­sches Schaf­fen geschaf­fen gezo­gen. Die Gren­zen sei­ner Fähig­kei­ten am Bass genau vor Augen, häng­te er sein Instru­ment mit dem Ende der Band an den Nagel, um sich als Erbe einer Sei­fen­fa­brik fort­an in Bür­ger­lich­keit zu erge­hen. Auf Sell­wert­hs Beer­di­gung im Jahr 1990 trifft er erst­mals Mar­le­ne wie­der, die ihn als Frau und Künst­le­rin immer noch fas­zi­niert. Ihre Radi­ka­li­tät fes­selt ihn, ihre Kom­pro­miss­lo­sig­keit inspi­riert ihn, ihre Rück­sichts­lo­sig­keit treibt ihn zur Verzweiflung.

»Die Ein­zi­gen«: Genau wie die fik­ti­ve New Wave Band, die den Aus­gangs­punkt der gemein­sa­men Geschich­te von Har­ry Bie­ler und Mar­le­ne Krahl bil­det, heißt auch der Roman, in dem eben die­se Geschich­te erzählt wird. Glei­cher­ma­ßen klug wie unter­halt­sam ver­folgt Autor Nor­bert Nie­mann den Weg der bei­den nach ihrer Wie­der­be­geg­nung. Über die Jah­re hin­weg bleibt er bis in die Gegen­wart hin­ein an ihrer Sei­te. Wo sind sie hin, die elek­tri­sie­ren­den Tage der 80er? Was wur­de aus den Unan­ge­pass­ten jener Zeit? Ver­än­dert Kunst die Gesell­schaft oder läuft es tat­säch­lich anders­her­um? Fra­gen wie die­se wer­den im jüngs­ten Werk des Inge­borg-Bach­mann- und Cle­mens-Bren­ta­no-Preis­trä­gers verhandelt.

Und die­ses Werk ist im Grun­de ein klas­si­scher Künst­ler­ro­man, der gleich­zei­tig aufs Kraft­volls­te von Lie­be und Schei­tern erzählt, von ent­fes­sel­ten Märk­ten und der Ver­ein­nah­mung kul­tu­rel­ler Aus­drucks­for­men durch Mar­ke­ting-Fach­leu­te, von der Kol­li­si­on frü­he­rer Lebens­ent­wür­fe mit der Rea­li­tät, vom Stre­ben nach Ver­wirk­li­chung und Wahr­haf­tig­keit, von Erfolg und sei­nen Folgen.

»Musik ist kei­ne Spra­che«, sagt Mar­le­ne Krahl an einer Stel­le. Die­ser Sprach­lo­sig­keit Abhil­fe zu schaf­fen – selbst das gelingt Nor­bert Nie­mann in »Die Ein­zi­gen« [Part­ner­link]: Mit sei­nen Schil­de­run­gen ver­leiht er gera­de zeit­ge­nös­sisch elek­tro­ni­scher Musik eine bis­lang nicht gekann­te Aus­drucks­form. Er über­setzt Klang in geschrie­be­nes Wort, ohne sich die übli­chen Kli­schees oder Mecha­nis­men anzueignen.

Beim Nach­füh­len der Musik kommt Nie­mann sicher­lich zugu­te, dass er in den 80er Jah­ren selbst Teil einer New Wave Band namens »Die­be der Nacht« war. »Es steckt sehr viel vom Anspruch, auch vom Dün­kel, den wir damals hat­ten, im Selbst­ver­ständ­nis der Ein­zi­gen«, sagt er. »Die­se Avant­gar­de-Atti­tü­de, die gesell­schafts­kri­ti­sche Ges­te, der Dekon­struk­ti­ons­an­satz.« Dar­über hin­aus hat er der Ver­su­chung wider­stan­den, eige­ne Erleb­nis­se all­zu tief in den Roman einzuflechten.

Da ist wenig Nor­bert Nie­mann in Har­ry, noch weni­ger gar in Mar­le­ne. Denn das ist, was ihn beim Schrei­ben inter­es­siert: »Größt­mög­li­cher Abstand, um so gut es geht den Scheu­klap­pen des eige­nen Ichs zu ent­kom­men.« Nur so konn­te die­ser vir­tuo­se Roman entstehen.

Im Rah­men der dies­jäh­ri­gen Auf­la­ge des Lite­ra­tur­fes­ti­vals »Lit.Eifel« wird Nor­bert Nie­mann am kom­men­den Frei­tag, 12. Juni, im »ikob – Muse­um für zeit­ge­nös­si­sche Kunst« in Eupen aus »Die Ein­zi­gen« lesen. Die Lesung beginnt um 20 Uhr.

Die­ser Arti­kel erschien ursprüng­lich im »Grenz­echo«, der deutsch­spra­chi­gen Tages­zei­tung für Ostbelgien.

Der im Text mit [Part­ner­link] mar­kier­te Ver­weis wur­de von mir im Rah­men mei­ner Teil­nah­me am Part­ner­pro­gramm der Ama­zon EU S.à r.l. gesetzt. Wei­te­re Hin­wei­se dazu fin­den sich im Impres­sum die­ser Seite.

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