Genug war genug. Was er gerade gehört hatte, konnte der junge Mann nicht unerwidert im Raum stehen lassen. Lauthals machte er seinem Ärger Luft. »Jetzt ist es aber echt gut, Bernd«, herrschte er den Künstler auf der Bühne an. »Nick Cave ist eine verdammte Ikone.« Und eben dieser Ikone hatte Bernd – Nachname: Begemann, Beruf: elektrischer Liedermacher – kurz zuvor mit einer beiläufigen Bemerkung während des Gitarrestimmens ans Bein gepinkelt. Seit jeher gehören launige Kommentare zum guten Ton bei seinen Konzerten. Doch mit diesem hatte er mindestens einen Bogen im Saal offensichtlich überspannt. »Du kannst Dir nicht alles erlauben!« Für einen Moment herrschte Stille im Publikum. Auch Begemann selbst ließ den Einwurf erst einmal sacken. Nachdem er fertig gestimmt hatte, lehnte er sich vor ans Mikrofon: »Tja, mein Freund, das ist Demokratie. Jeder darf alles Scheiße finden.«
So manchem, der an jenem Konzertabend im Aachener Jakobshof Zeuge dieses kurzen Dialogs wurde, ist die Episode in Erinnerung geblieben. Weil sie sich so schön als Anekdote mit schlagfertiger Pointe erzählen lässt. Aber auch, weil in Begemanns Replik ein großes Loch klafft, durch das die Wahrheit pfeift. Schließlich bringt sie eine der wichtigsten Errungenschaften der Demokratie auf einen einfachen, wenn auch schnoddrig formulierten Nenner. Allen Bürgern steht es in der Tat frei, mit Vorgängen oder Personen uneinverstanden zu sein. Und selbstverständlich darf jeder seine ganz eigene Sicht auch kundtun, darf dagegen sein, kritisieren, aufbegehren, protestieren, demonstrieren. Durch das Gebot der freien Meinung geschützt, müsste dabei eigentlich niemand um Leib und Leben fürchten. Eigentlich.
Denn so herrlich freiheitlich sich diese Theorie liest, so gänzlich anders läuft immer wieder deren praktische Umsetzung. Beispiele aus der allerjüngsten Vergangenheit gibt es zur Genüge: In Brasilien protestierten Menschen während des Confederation Cups gegen die massive Geldverschwendung, die das Schaffen einer Fußball-WM-Infrastruktur mit sich bringt. Ihre Bedenken wurden unter massivem Einsatz von Sicherheitskräften weggefegt. Wobei, eher sie selbst als ihre Bedenken. Oder Istanbul. Was Anfang Juni dort als Demonstration gegen die Bebauung einer innerstädtischen Parkanlage begann, ist in den Wochen danach zu einer Protestwelle für grundsätzliche Werte wie eben die Meinungsfreiheit erwachsen. Wasserwerfer, Tränengas, Schlägertrupps: Die Bilder der Gewalt, mit der die Obrigkeit diesen Kundgebungen in nahezu allen türkischen Großstädten begegnete, waren und sind aufs höchste erschütternd. Legitimiert wird der Exzess dadurch, dass den Protestlern die Bürgerrechte abgesprochen werden, dass sie als Terroristen und Plünderer diskreditiert werden.
Im Grunde muss hierzulande aber niemand mit dem Finger auf andere, mehr oder minder weit entfernte Staaten zeigen. Auch in Deutschland wird gegenüber Protestierenden in unschöner Regelmäßigkeit die grobe Kelle ausgepackt. Und auch das Verunglimpfen und Lächerlichmachen ihrer Positionen gehört dabei zum unguten Ton. »Wutbürger« stemmen sich gegen den Bau eines Bahnhofs, »Querulanten« blockieren das Finanzviertel Frankfurts und »unverbesserliche Öko-Aktivisten« zögern Castortransporte hinaus. Ja, diese Leute mögen für »die da oben« unbequem und anstrengend sein. Trotzdem ist es gut, dass es Menschen gibt, die nicht alles unhinterfragt abnicken und durchwinken, die sich querstellen, wenn es ihnen angemessen erscheint. Und Demokratie ist, wenn sie ihre Meinung haben und vertreten können, wenn man sie ernst nimmt und wenn man sich bei einer schlagfertigen Antwort aufs Verbale beschränkt. Denn sofern er sich im Rahmen der bestehenden Gesetze bewegt, darf jeder alles Scheiße finden. Sogar Nick Cave. Oder Kritik an ihm.
Die Redaktion von »NEO« hatte mich gebeten, mir ein paar Gedanken zum Thema Protest zu machen. Das ist das Ergebnis.